Auch eine richterliche Verfahrensvorbereitungshandlung kann auf Befangenheit hindeuten
Gegenstand der Entscheidung des BVerfG war ein Verfahren vor dem Sozialgericht, in welchem eine Krankenkasse einen Pfleger auf 49.000 Euro Schadenersatz wegen einer aus Sicht der Krankenkasse seitens des Klägers gemeinsam mit einem von ihm betreuten Patienten vorgenommen Abrechnungsbetrug verklagt hatte.
Passwortgeschützte CD nur für das Gericht
Die Krankenkasse hatte zur Begründung ihrer Klage dem Gericht eine passwortgeschützte CD übersandt, mit der staatsanwaltschaftliche Ermittlungsakte gegen den Krankenpfleger enthielt.
- Die Krankenkasse hatte mit der StA abgesprochen, dass lediglich das Gericht Einsicht in die Ermittlungsakte erhalten sollte.
- In dem begleitenden Schriftsatz teilte die Krankenkasse gegenüber dem Gericht mit, das Gericht könne das Passwort über die StA erfahren.
Richterin erfragte Passwort bei der StA
Die für das Verfahren zuständige Richterin am SG verfügte die Übermittlung einer Kopie des Schriftsatzes, mit dem die CD übersandt worden war, an die Gegenseite. Gleichzeitig bemühte sie sich bei der StA um die Mitteilung des Passwortes. Entgegen der richterlichen Verfügung, wurde der Schriftsatz nicht an den Bevollmächtigten des Beklagten im sozialgerichtlichen Verfahren versandt.
Beklagter stellt Befangenheitsantrag
Als der Anwalt des Beklagten von dem Sachverhalt erfuhr, stellte er bei Gericht den Antrag auf Ablehnung der Richterin wegen der Besorgnis der Befangenheit. Zur Begründung machte er geltend:
- Sein Mandant durch die Vorenthaltung des Schriftsatzes sowie die gleichzeitige Erfragung des Passwortes bei der StA von einem für das Verfahren entscheidenden Sachverhalt ohne sein Wissen ausgeschlossen worden.
- Das Verhalten der Richterin sei geeignet, das Vertrauen seines Mandanten in eine unvoreingenommene und neutrale Führung des Verfahrens zu erschüttern.
Sozialgericht weist Befangenheitsantrag zurück
Eine andere Kammer des SG wies das Ablehnungsgesuch zurück. Nach Auffassung des Gerichts lässt die Anforderung des Passwortes für sich genommen noch nicht auf eine voreingenommene oder willkürliche Prozessführung schließen.
Die von der Richterin zu erwartende Neutralität sei nur dann nicht gegeben, wenn sie tatsächlichen Einsicht in die Ermittlungsakte genommen hätte. Aus ihrer Verfügung zur Weiterleitung des Schriftsatzes an den Beklagtenvertreter folge, dass die abgelehnte Richterin davon ausgegangen sei, dass auch der Beklagte im Rahmen einer Akteneinsicht Kenntnis von dem Inhalt der CD erhalten würde.
- Außerdem habe die Richterin selbst ausgeführt, niemals beabsichtigt zu haben, dem Verfahren Akten zu Grunde zu legen, die der beklagten Partei nicht zur Verfügung gestellt würden.
- Das Passwort habe sie lediglich im Rahmen einer Vorbereitungshandlung erfragt, die die Möglichkeit zur Akteneinsicht eröffnen sollte.
- Zur Akteneinsicht sei es im übrigen ja auch noch nicht gekommen.
Verfassungsbeschwerde nur ausnahmsweise gegen gerichtliche Zwischenentscheidungen zulässig
Die Verfassungsrichter bewerteten die Verfassungsbeschwerde nicht schon deshalb als unzulässig, weil mit ihr lediglich die Zwischenentscheidung eines Gerichts (Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs) angegriffen wurde. Zwar seien Verfassungsbeschwerden gegen Zwischenentscheidungen in der Regel unzulässig, etwas anderes gelte aber dann,
- wenn eine gerichtliche Zwischenentscheidung zu einem bleibenden rechtlichen Nachteil für einen Betroffenen führen kann,
- der anschließend nicht mehr vollständig behoben werden könne.
- Auf die Entscheidung über das Ablehnungsgesuch treffe dies deshalb zu, weil sie Bindungswirkung für das weitere Verfahren entfalte (§§ 202 Satz 1 SGG, 512 ZPO),
- über eine wesentliche Rechtsfrage abschließend befinde und
- in den weiteren Instanzen nicht mehr nachgeprüft und korrigiert werden könne.
BVerfG sieht Recht auf den gesetzlichen Richter verletzt
Im übrigen hielt das BVerfG die Verfassungsbeschwerde für offensichtlich begründet. Art. 101 Abs.1 Satz 2 GG garantiere,
- dass der Rechtsuchende im Einzelfall vor einem Richter steht, der unabhängig und unparteilich sei und
- die Gewähr für Neutralität und Distanz gegenüber den Verfahrensbeteiligten bietet.
- Diesen Eindruck könnten im Einzelfall bereits bestimmte, das Verfahren vorbereitende Maßnahmen des Gerichts erschüttern.
- Dabei komme es nicht auf die Frage an, ob der abgelehnte Richter tatsächlich befangen ist oder war (BGH, Beschluss v. 7.11.2018, IX ZA 16/17).
- Es genüge eine aus den konkreten Umständen verständliche Besorgnis der Voreingenommenheit (BGH, Urteil v. 2.3.2004, 1 StR 574/03).
Passwortabfrage erweckt Eindruck mangelnder Unvoreingenommenheit
Das im konkreten Fall von der Richterin abgefragte Passwort diene ausschließlich der Entschlüsselung der CD, so dass die Richterin mit der Abfrage für sich selbst objektiv die Möglichkeit eröffnet habe, unter Ausschluss des Beklagten nach Eingang des Passwortes unmittelbar Einsicht in die Ermittlungsakte zu nehmen. Dies könne für eine Prozesspartei bei vernünftiger Würdigung den Eindruck einseitiger Verfahrensführung erzeugen und begründe somit den die Besorgnis der Befangenheit.
Anschein der Voreingenommenheit nicht entkräftet
Die nachträgliche Äußerung der Richterin, sie habe nie beabsichtigt, Akten dem Verfahren zugrunde zu legen, die der Beschwerdeführer nicht kennt, entkräften nach Wertung der Verfassungsrichter den Anschein der Voreingenommenheit nicht. So entbehre die Annahme des Gerichts, die abgelehnte Richterin sei davon ausgegangen, dass auch der Beklagte Kenntnis vom Inhalt der CD erhalten werde, einer objektiven Grundlage. Demgemäß hob das BVerfG den Beschluss über die Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs wegen einer Verletzung von Art.101 Abs.1 Satz 2 GG auf und verwies die Sache an das SG zur erneuten Entscheidung zurück.
(BVerfG, Beschluss v. 21. 11. 2018, 1 BvR 436/17).
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Hintergrundwissen
Verdacht der Befangenheit: Fallgruppen
Jenseits der gesetzlichen Befangenheitsgründe muss ein Befangenheitsantrag Tatsachen glaubhaft darstellen, die einen Befangenheitsverdacht begründen und das Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters begründen. Maßgeblich ist dabei die Sicht eines vernünftigen Dritten. Ob sich der Richter selbst für befangen hält oder fühlt, ist irrelevant.
In der Praxis haben sich verschiedene Fallgruppen mit einer ausufernden Kasuistik entwickelt:
- Verfahrensfehler und skeptische Äußerungen über das Prozessverhalten von Verfahrensbeteiligten, Weltanschauliche Einstellungen oder persönliche oder berufliche Interessen am Prozessausgang können zur Befangenheit führen.
- Befangenheit ist danach vor allem aufgrund eines besonderen Näheverhältnisses des Richters zu Verfahrensbeteiligten naheliegend.
- Sie steht aber auch bei Mitwirkungen an Vorentscheidungen oder sonstige Vorbefassungen mit der zu entscheidenden Sache schnell im Raum.
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