Rechtliches Gehör umfasst das Recht auf Sachverständigenbefragung
Sowohl das Landgericht als auch das Oberlandesgericht Rostock könnten sich den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, mit dem ihre Entscheidungen aufgehoben wurden, einrahmen und für künftige Fälle beherzigen.
Arzthaftungsprozess zu folgenschwerer OP
In dem Ausgangsfall hatte sich ein Patient von einem Arzt an der Bandscheibe operieren lassen. Nach der Operation wurde festgestellt, dass hierbei offenbar ein Bauchmuskelnerv durchtrennt worden war. Der Patient machte hierauf vor dem Landgericht einen Schmerzensgeldanspruch in Höhe von 10.000 EUR geltend. Das Landgericht holte ein Sachverständigengutachten ein.
Sachverständigengutachten ließ Fragen offen
Der Beschwerdeführer beantragte nach Vorlage des Gutachtens, den Sachverständigen zur mündlichen Erläuterung des Gutachtens zu laden; die Frage, ob die Durchtrennung eines bestimmten Nervs für die Operation notwendig gewesen sei, habe der Sachverständige nicht beantwortet. Das Landgericht kam dem Antrag nicht nach und wies die Klage nach mündlicher Verhandlung ab. Hiergegen legte der Beschwerdeführer Berufung ein, die das Oberlandesgericht nach vorherigem Hinweis mit Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückwies.
Zur Begründung führte es im Wesentlichen wie schon das Landgericht Rostock aus, dass die Durchtrennung der Nervenfasern ausweislich des durch das Landgericht eingeholten Sachverständigengutachtens in einzelnen Fällen aufgrund anatomischer Varianten nicht vermeidbar und damit nicht schuldhaft erfolgt sei. Eine Ladung des Sachverständigen zum Termin sei nicht erforderlich gewesen, da „das Gutachten in sich schlüssig und nachvollziehbar“ gewesen sei.
Parteien dürfen Sachverständigen Fragen stellen
Gegen die genannten Entscheidungen hat der Patient Verfassungsbeschwerde erhoben – mit Erfolg. Denn das Bundesverfassungsgericht kam zu dem Ergebnis, dass die angegriffenen Entscheidungen den Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG verletzen.
Begründung: die Prozessbeteiligten hätten einen Anspruch darauf, sich vor Erlass der gerichtlichen Entscheidung zu dem zugrundeliegenden Sachverhalt zu äußern. Dem entspreche die Verpflichtung der Gerichte, Anträge und Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen.
Der Anspruch auf rechtliches Gehör umfasse grundsätzlich auch die Anhörung gerichtlicher Sachverständiger. Nach § 402 ZPO in Verbindung mit § 397 ZPO sind die Parteien berechtigt, dem Sachverständigen diejenigen Fragen vorlegen zu lassen, die sie zur Aufklärung der Sache für dienlich erachten.
Meinung des Gerichts zum Gutachten ist irrelevant
Die Verfassungsrichter beziehen sich sodann auf die ständige Rechtsprechung des BGH, der daraus die Pflicht der Gerichte abgeleitet hat, dem Antrag einer Partei auf mündliche Befragung gerichtlicher Sachverständiger nachzukommen. Auf die Frage, ob das Gericht selbst das Sachverständigengutachten für erklärungsbedürftig hält, komme es nicht an.
Es gehöre zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs, dass die Parteien den Sachverständigen Fragen stellen, ihnen Bedenken vortragen und sie um eine nähere Erläuterung von Zweifelspunkten bitten können.
Ein Antrag auf Anhörung des Sachverständigen könne allerdings dann abgelehnt werden, wenn er verspätet oder rechtsmissbräuchlich gestellt wurde.
Habe das Erstgericht einem Antrag auf mündliche Anhörung des Sachverständigen verfahrensfehlerhaft nicht entsprochen, müsse das Berufungsgericht dem in zweiter Instanz wiederholten Antrag stattgeben.
Beachtet ein Gericht diese verfahrensrechtlichen Anforderungen nicht, so liegt darin nach Ansicht der Bundesverfassungsrichter jedenfalls dann ein Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn es einen Antrag auf Erläuterung des Sachverständigengutachtens völlig übergeht oder ihm allein deshalb nicht nachkommt, weil das Gutachten ihm überzeugend und nicht weiter erörterungsbedürftig erscheint.
Das nahm das Gericht vorliegend an. Ergänzend führte das Gericht aber auch aus, dass Art. 103 Abs. 1 GG nicht verlange, einem rechtzeitigen und nicht missbräuchlichen Antrag auf Anhörung der Sachverständigen ausnahmslos Folge zu leisten. Die mündliche Anhörung des Sachverständigen sei zwar die nächstliegende, aber nicht die einzig mögliche Behandlung eines derartigen Antrags.
(BVerfG, Beschluss v. 17.1.2012, 1 BvR 2728/10).
-
Italienische Bußgeldwelle trifft deutsche Autofahrer
2.307
-
Wohnrecht auf Lebenszeit trotz Umzugs ins Pflegeheim?
1.7852
-
Gerichtliche Ladungen richtig lesen und verstehen
1.621
-
Klagerücknahme oder Erledigungserklärung?
1.563
-
Überbau und Konsequenzen – wenn die Grenze zum Nachbargrundstück ignoriert wurde
1.507
-
Brief- und Fernmelde-/ Kommunikationsgeheimnis: Was ist erlaubt, was strafbar?
1.473
-
Wann muss eine öffentliche Ausschreibung erfolgen?
1.328
-
Wie kann die Verjährung verhindert werden?
1.303
-
Verdacht der Befangenheit auf Grund des Verhaltens des Richters
1.154
-
Formwirksamkeit von Dokumenten mit eingescannter Unterschrift
1.0021
-
Bundestag beschließt neues Leitentscheidungsverfahren beim BGH
14.10.2024
-
Fristverlängerungsanträge widerlegen die Dringlichkeit
07.10.2024
-
Gesetzentwurf zum zivilgerichtlichen Onlineverfahren
10.09.2024
-
Zurückweisung der Berufung nicht vor Eingang der Berufungsbegründung
22.08.2024
-
Kanzleischlüssel vergessen, Berufungsfrist versäumt
15.08.2024
-
Abschlussbericht zum Projekt „Digitales Basisdokument“
14.08.2024
-
Das BMJ plant weitere Digitalisierungsschritte für die Justiz
03.07.2024
-
Nach Anwaltsfehler muss Ex-Ehemann Unterhalt zahlen
01.07.2024
-
Klagerücknahme oder Erledigungserklärung?
25.06.2024
-
Kabinett beschließt Anhebung der Streitwertgrenze für Amtsgerichte
14.06.2024