Kein Impfvorrang für herzkranken 73-Jährigen mit Familie im Schulbetrieb
Rechtsgrundlage für Covid-Impfungen ist die Verordnung zum Anspruch auf Schutzimpfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2, die sowohl bezüglich der Verfassungsmäßigkeit als auch hinsichtlich der Rangfolge der Impfungen nicht unumstritten ist.
Herzkranker mit Ehefrau und Kindern in der Schule wollte in Gruppe 1 mit höchste Priorität
Auf den, was sich anfühlt wie die letzten langen Metern vor dem Ziel der Immunität, will sich erst recht niemand mit dem Coronavirus anstecken, der ahnt wie schwer er auf Grund eine Vorerkrankung daran erkranken könnte. Das wirft ein Schlaglicht auf das aktuell zentrale Problem: zu viele Menschen, zu wenig verfügbarer Impfstoff. Daher war eine Prioritätenregelung, die in der Coronavirus-Impfverordnung (CoronaImpfV) umgesetzt wurde, unumgänglich.
Momentan ist die Gruppe 1 (höchste Priorität) mit dem Impfen dran. Dazu gehören:
- über 80jährige,
- Bewohner von Pflege- und Altenheimen,
- von ambulanten Pflegediensten Betreute,
- Personal in medizinischen Einrichtungen mit einem erhöhten Coronavirus-Expositionsrisiko,
- Personal in Krankenstationen mit Patienten, die ein sehr hohes Risiko eines tödlichen Corona-Krankheitsverlaufs tragen (§ 2 CoronaImpfV).
Die Gruppe 2 (hohe Priorität) erfasst dann u.a. Menschen über 70 Jahre (§ 3 CoronaImpfV).
Hochpriorisierung wegen besonderer persönlicher Umstände?
Der 73-jährige Niedersachse wollte sich per einstweiliger Anordnung von Gruppe 2 in Gruppe 1 katapultieren lassen, weil er sich für mindestens genauso gefährdet hält. Er argumentierte mit seiner chronischen Herzinsuffizienz sowie seiner als Grundschullehrerin arbeitenden Frau und mit seinen beiden jugendlichen, schulpflichtigen Kindern. Von ihnen könne er sich nicht vollständig isolieren, weil sie ihm bei Vorhofflimmern oder Kammerflimmern helfen müssten.
Impfgruppen sind fest und lassen keine Verschiebungen im Einzelfall zu
Das LSG Niedersachsen half dem Mann nicht. Es stützt sich auf die CoronaImpfV, die keine Ausnahmetatbestände vorsieht. Eine Öffnungsklausel hätte den Impfprozess mit dieser zusätzlichen Entscheidungsrubrik zu behäbig gemacht. Nur innerhalb der Gruppen könne priorisiert werden.
Knappheit der Impfstoffe verkürzt Möglichkeit, sich auf Grundrechte zu berufen
Der 73-jährige warf seine Grundrechte auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) und Gleichbehandlung (Art. 3 Abs. 1 GG) in die Waagschale, ließ die niedersächsischen Richter damit jedoch unbeeindruckt. Solange nicht genug Impfstoff verfügbar sei, seien Teilhabeansprüche eben nur begrenzt.
Impfverordnung im Einklang mit STIKO-Empfehlungen
Die staatlich festgelegte Reihenfolge hielt das LSG für einen gangbaren, wenn auch nicht den einzig wahren Weg, insbesondere weil diese auf den Empfehlungen der beim RKI angesiedelten STIKO (Ständige Impfkommission) beruht und damit wissenschaftlich fundiert ist. Dies allerdings vor dem Hintergrund, dass schon absehbar war, dass die Reihenfolge demnächst korrigiert wird.
Gefahr des 73-jährigen im Vergleich nicht überhöht
Die Lage des Antragstellers schätzte das Gericht nicht als besonders außergewöhnlich oder härtefallträchtig ein, da es eine Vielzahl von Berufen gebe, in denen Kontakte unvermeidbar sind. Neben Lehrern geht es z.B. Verkäufern, Erziehern oder Angestellten in Apotheken oder Arztpraxen genauso. Die Herzerkrankung fällt erst in Gruppe 3 der CoronaImpfV bzw. Gruppe 4 der STIKO.
Geplante Änderungen der Impfverordnung in diesem Fall nicht einschlägig
Die momentan angedachte Änderung der CoronaImpfV verhilft dem Mann auch nicht zu einer schnelleren Impfung. Geplant ist v.a. die Aufnahme von Personen mit bestimmten Vorerkrankungen (schwere Diabetes, bestimmte Krebserkrankungen, chronische Leben- und Nierenerkrankungen, sehr starkes Übergewicht) in die Gruppe 2 und eine Differenzierung zwischen den Impfstoffen. AstraZeneca soll nicht an über 65-jährige verimpft werden.
(LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss v. 2.2.2021, L 5 SV 1/21 B ER).
Coronavirus-Impfverordnung
Anmerkung: Uneinheitliche Rechtsprechung
Die Haltung der Gerichte scheint in dieser Frage, ob die Priorisierung in medizinischen Härtefällen durch Einzelfallentscheidung abgeändert werden kann, hin und her zu wogen. Während etwa in Frankfurt am Main, Gelsenkirchen oder Dresden durchaus Raum für eine Berücksichtigung von Härtefällen gesehen wird (VG Frankfurt a. M., Beschlüsse v. 29.01.2021, 5 L 182/21.F sowie 5 L 179/21.F; VG Gelsenkirchen Beschluss v. 25.01.2021, 20 L 79/21; VG Dresden, Beschluss v. 29.1 2021, 6 L 42/2), lehnen dies die Verwaltungsgerichte in München oder Berlin mit Verweis auf den Wortlaut rundheraus ab.
Hintergrund: Impfverordnung stößt auf verfassungsrechtliche Bedenken
Die Impfverordnung ist unter Verfassungsrechtlern auf Kritik gestoßen. Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier erklärte gegenüber der Ärztezeitung, die Entscheidung darüber, nach welchen Kriterien für den Schutz des Lebens und der Gesundheit nur begrenzt zur Verfügung stehende Behandlungen ermöglicht werden, gehöre zum Kernbestand und Wesen des verfassungsrechtlich geforderten Schutzes des Lebens und der Gesundheit, der gleichberechtigt jedermann zu gewähren sei. Eine dermaßen grundsätzliche, ja schicksalhafte Entscheidung hätte nicht dem alleinigen Ermessen eines Ministers, sondern dem Parlament überantwortet werden müssen.
Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 1972 in seiner ersten Numerus Clausus-Entscheidung die Verteilung von knappen Studienplätzen als „Zuteilung von Lebenschancen“ bezeichnet. In einer rechtsstaatlich-parlamentarischen Demokratie könne daher der Vorbehalt, dass in den Grundrechtsbereich lediglich durch ein Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden darf, nur den Sinn haben, dass der Gesetzgeber die grundlegenden Entscheidungen selbst zu verantworten hat ( aus: Verfassungsblog v. 2.2.2021).
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