Es gilt als guter Ton, der hehren Idee der Gerechtigkeit den Vorrang vor der Form einzuräumen. Wer sich strafbar gemacht hat, muss dafür büßen. Folgt keine Strafe auf das Verbrechen, schmerzt dies fast so sehr wie die eigene Steuerzahlung im Angesicht der Steuerflucht „der Großkonzerne“. Der gute Bürger hat jedenfalls so lange eine klare Meinung zu allen Beschränkungen der Strafverfolgung, die den Organen staatlicher Gewalt Grenzen setzen, bis er den Strafverfolgungsbehörden selbst das erste Mal schutzlos ausgeliefert zu sein fürchtet.
Die Form, so meint der gute Bürger, ist ein Hindernis auf dem Weg zum hehren Ziel einer gerechten Gesellschaft, das es zu beseitigen gilt, damit die sündigen Verderber des Paradieses auf Erden zur Strecke gebracht und am Ende doch noch alles gut werde. Wer die Form als Hindernis der Gerechtigkeit versteht, der muss aus logischen Gründen die Form verachten, wenn er sich als gerechten Menschen begreifen möchte.
Bleibt der Strafprozess so, wie ihn der freiheitliche Rechtsstaat fordert?
Die Form, so schreibt hingegen der berühmte Rechtswissenschaftler Rudolf von Jhering bereits im Jahr 1869, ist die „geschworene Feindin der Willkür, die Zwillingsschwester der Freiheit“. Feste Formen lassen sich nur „brechen, nicht biegen“. Sie gebieten Einhalt, wo der fromme Wunsch der moralisch überlegenen Masse nach Gerechtigkeit auf Erden den Einzelnen seiner wohlverdienten Buße zuführen will. Sind sie deshalb ungerecht?
Wer die Form vollständig verachtet, hat keinerlei Interesse an einem Strafprozess, wie ihn der freiheitliche Rechtsstaat fordert. Wer immer schon weiß, wer der Täter ist und was ihm zusteht, der braucht auch keinen Prozess mehr, der die Kenntniserlangung formt und bestimmt. Die Verächter der Form sehen den Strafprozess nicht als Begrenzung und Ordnung eines vorsichtigen Tastens nach der Wahrheit, sondern höchstens als kommunikatives Mittel zur Bekanntmachung der autoritären Entscheidung.
Wer den Strafprozess und den durch den Gesetzgeber im Sinne der individuellen Freiheit selbst auferlegten Grenzen seiner Wahrheitssuche zur Seite wischt, dem fehlt nicht nur der Blick für die freiheitssichernde Funktion eines Verfahrens, an dessen Ende Existenzen durch staatliche Macht vernichtet werden können, sondern der lässt auch ausreichende Sensibilität für die Belastungen vermissen, die das Verfahren als solches für den Beschuldigten, seine Familie und sein soziales Umfeld bedeutet. Es gibt Fälle, in denen die psychischen Belastungen eines Strafprozesses den Beschuldigten schwerer treffen als die Sanktion am Ende des Verfahrens.
Strafverfolgung nach einem rechtskräftigen Freispruch
Auch das in Art. 103 Abs. 3 GG verankerte Verbot der Strafverfolgung nach einem rechtskräftigen Freispruch ist eine durch den Verfassungsgeber selbst auferlegte Grenze, die dem Freigesprochenen die Angst vor erneuter Verfolgung nehmen und Rechtssicherheit herstellen soll. Es wird nach einfachem Recht durch § 362 StPO eingeschränkt, der bereits bei Erlass des Grundgesetzes galt und in wenigen praktisch fast nicht vorkommenden Fällen eine möglicherweise zulässige Einschränkung der Verfassungsgarantie vorsieht. Zu diesen Fällen gehören neben dem glaubhaften Geständnis des Freigesprochenen Urkundenfälschungen, Falschaussagen oder Straftaten der Richter zu Gunsten des Freigesprochenen. Man kann sich darüber streiten, ob § 362 StPO in seiner heutigen Form ganz oder in Teilen verfassungswidrig ist.
Verfassungsrechtlich fragwürdige Gesetzesänderung
Ob die nun vorgeschlagene Gesetzesänderung verfassungskonform wäre, ist zweifelhaft. Wie bei der Wiederaufnahme zu Gunsten des Verurteilten soll in Zukunft eine Wiederaufnahme zu Lasten des freigesprochenen Angeklagten möglich sein, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die dringende Gründe dafür bilden, die nun zu einer Verurteilung führen können. Während verschiedene Stimmen die Gesetzesänderung für verfassungskonform halten, weil Art. 103 Abs. 3 GG nicht vorbehaltlos gelte und zumindest aus überragend wichtigen Gründen in Fällen schwerster Kriminalität eingeschränkt werden könne, sehen andere Stimmen unter anderem mit Verweis auf die willkürliche Aufhebung politisch missliebiger Urteile durch die NS-Justiz eine Verletzung eines fundamentalen Verfassungsgebots und die Gefahr eines Dammbruchs.
Der Verweis der Befürworter einer Gesetzesänderung auf den Ausnahmecharakter der Gesetzesänderung ist kaum von der Hand zu weisen. Die Anzahl der Fälle, in denen neue Tatsachen oder Beweismittel nach einem Freispruch in einem üblicherweise äußerst gründlich geführten Mordprozess auftauchen, dürfte marginal sein.
Was treibt den Gesetzgeber?
Was treibt den Gesetzgeber, eine Vorschrift zu erlassen, die kaum einen praktischen Anwendungsbereich haben wird, aber in diesen Fällen tief in ein wesentliches Prozessgrundrecht eingreift und damit ein liberales Heiligtum teilweise Preis gibt? Hans von Möhlmann, dessen Tochter 1981 ermordet wurde, hat in einer Petition rund 180.000 Unterstützter hinter seinem Anliegen versammelt. Ein Verdächtiger wurde in den 1980er Jahren rechtskräftig freigesprochen. Heute gibt es neue Beweise – DNA, die damals noch nicht ausgewertet werden konnte. Der Vater hält die Gesetzeslage für eine fürchterliche Ungerechtigkeit und hat es geschafft, die Regierungsfraktionen für sein Ansinnen zu gewinnen. Das ist ihm nicht zu verdenken.
Doch ein solcher Einzelfall ist der denkbar schlechteste Grund für die zumindest teilweise Aufgabe eines Verfassungsprinzips. Hans von Möhlmann wird keine Gerechtigkeit widerfahren. Selbst wenn es mehr als 40 Jahre nach dem Tod seiner Tochter aufgrund einer rückwirkenden – und damit auch aus diesem Grund verfassungsrechtlich höchst problematischen Gesetzesanwendung – noch zu einer Verurteilung des Mörders seiner Tochter kommen würde, wird der Verlust seiner Tochter niemals angemessen durch ein strafrechtliches Urteil abzubilden sein.
Verlust an Freiheitsrechten einer unbekannten Anzahl von Menschen
Das Urteil aber wäre erkauft mit einem Verlust an Freiheitsrechten einer unbekannten Anzahl von Menschen. Dazu gehören auch diejenigen, die – weil sie unschuldig sind – zu Recht vom Vorwurf eines Mordes oder Kriegsverbrechens freigesprochen werden und trotzdem für den Rest ihres Lebens zittern müssen, dass sie die Tortur einer weiteren Hauptverhandlung erneut durchstehen müssen. Und was ist eigentlich, wenn es erneut zu einem Freispruch kommt? Darf der Staat es dann noch ein drittes und viertes Mal versuchen?
Es ist also nicht einmal erforderlich, Dammbruchargumente zu bemühen, die nun einige anführen, wenn sie vielleicht nicht zu Unrecht befürchten, dass allzu bald die Verlockung des populistisch geriebenen Gesetzgebers zu groß werden wird, auch andere besonders scheußliche Straftaten in den Katalog der Wiederaufnahmegründe aufzunehmen. Es reicht aus, sich vor Augen zu führen, was der Wunsch nach gerechter Zufügung eines Übels gegen einen Dritten einen selbst und die Gemeinschaft kostet. Wer meint, die Kosten träfen nicht ihn, mag sich daran erinnern, dass zwar jeder frei sein mag, nicht zu morden, dass aber die Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen wegen eines Mordes nicht in der Hand des Bürgers liegt. Wir sind alle auf Justizgrundrechte angewiesen, wenn wir staatlicher Macht nicht hilflos ausgeliefert sein wollen.
Was sagt es über unsere Gesellschaft, in der seit Jahrzehnten ein immer dichter werdendes Netz strafrechtlicher Kontrolle gespannt wird? Was sagt die Verachtung der Form über den Zustand der Gesellschaft? Jhering würde sagen: Die Blütezeit der Freiheit neigt sich dem Ende zu.