Wohnungsdurchsuchung wegen Geschwindigkeits-Überschreitung war unverhältnismäßig
Das Schutzrecht an der Wohnung ist hoch: Eine leichtfertig angeordnete Durchsuchung verletzt die Grundrechte aus Art. 13 Abs. 1 und Abs. 2.
Mit dem Motorrad zu schnell unterwegs gewesen?
Dem Beschwerdeführer war als Führer eines Motorrads zur Last gelegt worden, fahrlässig die zulässige Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 30 km/h (zulässige Geschwindigkeit: 70 km/h; festgestellte Geschwindigkeit nach Toleranzabzug: 100 km/h) überschritten zu haben.
- Nach Nr. 11.3.5 des zum Tatzeitpunkt gültigen Bußgeldkataloges wurde gegen ihn eine Geldbuße in Höhe von 80 EUR verhängt.
- Gegen den Bußgeldbescheid hat der Beschwerdeführer rechtzeitig Einspruch eingelegt.
- Vor dem Amtsgericht Reutlingen fand am 28. Februar 2013 die Hauptverhandlung in öffentlicher Sitzung statt.
- Der Beschwerdeführer machte keine Angaben zur Sache, wies vielmehr lediglich darauf hin, dass aus seiner Sicht eine Identifizierung des Fahrers nicht möglich sei.
Vom Amtsgericht wurde Termin zur Fortsetzung der Hauptverhandlung auf 14. März 2013 anberaumt.
Ergebnislose Wohnungsdurchsuchungen
Noch am Tag der ersten Verhandlung, am 28. Februar 2013, ordnete das Amtsgericht Reutlingen die Durchsuchung der Wohnung des Beschwerdeführers zum Zwecke des Auffindens und der Beschlagnahme der vom Fahrer des Kraftrades getragenen Motorradbekleidung (Helm, Oberbekleidung, Handschuhe, Schuhe) sowie einer auf dem Tatfoto ebenfalls erkennbaren Armbanduhr an. Der Beschluss wurde am 1. März 2013 vollzogen.
Falsche Mororradkluft
Ausweislich des Durchsuchungsvermerks des Polizeireviers Metzingen habe die vorgefundene Bekleidung (Motorradjacke/Motorradschuhe) und zwei Motorradhelme nicht den auf dem Tatfoto erkennbaren Objekten entsprochen.
Deshalb ordnete das Gericht mit Beschluss vom 8. März 2013 erneut die Durchsuchung der Wohnung des Betroffenen und die Beschlagnahme der genannten Gegenstände an. Der neuerliche Durchsuchungsbeschluss wurde am 12. März 2013 vollzogen, brachte aber auch keine Ergebnisse.
Verurteilung aufgrund eines anthropologisches Gutachtens
Durch - inzwischen rechtskräftiges - Urteil auf Grund mündlicher Verhandlung wurde der Beschwerdeführer zu einer Geldbuße in Höhe von 80 Euro verurteilt. Im Verfahren waren ein Profilfoto des Beschwerdeführers sowie ein anthropologisches Gutachten, das eine Übereinstimmungswahrscheinlichkeit von zwischen 95 und 99% ergeben hatte, angefertigt worden.
Wohnungsdurchsuchung war unverhältnismäßig
Das BVerfG gestand dem Amtsgericht zwar zu, dass der Tatverdacht nicht unerheblich und nicht lediglich auf Vermutungen gegründet war. Insoweit seien die Haltereigenschaft und nach der Einschätzung des erkennenden Gerichts die Ähnlichkeit der Person auf dem Überwachungsfoto mit dem Betroffenen jedenfalls ausreichende Indizien.
„Das Gewicht der Ordnungswidrigkeit sowie die auf Grund der guten Qualität der vorhandenen Beweismittelfotos erfolgversprechende Möglichkeit einer Identitätsfeststellung durch Einholung eines anthropologischen Gutachtens sprachen im vorliegenden Fall jedoch gegen den mit einer Wohnungsdurchsuchung verbundenen erheblichen Eingriff in das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 13 Abs. 1 und Abs. 2 GG“, betonte das Gericht.
Keine „beträchtliche“ Geschwindigkeitsüberschreitung
Zwar habe es sich bei der vorgeworfenen Ordnungswidrigkeit nicht um eine Bagatelle, aber auch nicht – wie von den Fachgerichten angenommen – um eine „beträchtliche“ Geschwindigkeitsüberschreitung gehandelt.
- Die Geldbuße nach Nr. 11.3.5 des zum Tatzeitpunkt gültigen Bußgeldkatalogs in Höhe von 80 EUR habe sich vielmehr am unteren Rand der Geschwindigkeitsüberschreitungen mit Krafträdern befunden, die überhaupt zu einer Eintragung im Verkehrszentralregister führten.
- Ein Fahrverbot sei im Regelfall bei erstmaliger Begehung nicht vorgesehen gewesen.
- Schließlich seien auch keine erschwerenden Umstände bei der dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Tat erkennbar.
- Die Geschwindigkeitsüberschreitung trug sich außerhalb geschlossener Ortschaften zu und wies somit nicht die gleiche abstrakte Gefährlichkeit auf wie eine Geschwindigkeitsüberschreitung in gleicher Höhe innerhalb einer geschlossenen Ortschaft.
Die Durchsuchung erschien schon deshalb unverhältnismäßig.
Keine Voreintragungen im Verkehrszentralregister
Gegen die Durchsuchungsanordnungen sei zudem anzuführen, dass bei dem Beschwerdeführer keine Voreintragungen im Verkehrszentralregister vorlagen.
Außerdem nicht das mildeste Mittel
- „Insbesondere aber haben Amtsgericht und Landgericht verkannt, dass im vorliegenden Einzelfall wegen der guten Qualität der Beweismittelfotos die Einholung eines anthropologischen Gutachtens nahe lag
- und jedenfalls die sofortige, noch dazu mehrfache Anordnung der Wohnungsdurchsuchung deshalb zurückzustehen hatte.
- Denn bei dem – vom Amtsgericht auch eingeholten – Gutachten nach Bildern handelte es sich um ein erheblich milderes Mittel als es die Durchsuchung darstellt.
- Insoweit hätte das Amtsgericht die Tauglichkeit der Überwachungsbilder für ein Gutachten zunächst mit dem Sachverständigen abklären und gegebenenfalls die Erstellung des Gutachtens abwarten müssen“,
rüffelten die Verfassungsrichter das Amtsgericht in Reutlingen.
(BVerfG, Beschluss vom 14.7.2016, 2 BvR 2748/14)
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