Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Beschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses zur Qualitätssicherung für zugelassene Krankenhäuser. Rechtswidrigkeit der Heraufsetzung der Mindestmengenregelung für Perinatalzentren. Normenkontrolle des Landessozialgerichts in Bezug auf Richtlinien und Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses. Notwendigkeit prozessrechtlicher Vorschriften für eine allgemein verbindliche Entscheidung
Leitsatz (amtlich)
1. Die Heraufsetzung der Mindestmenge für die stationäre Versorgung Frühgeborener mit Geburtsgewicht unter 1.250 Gramm von 14 auf 30 mit Wirkung vom 1.1.2011 erscheint nach derzeitigem Erkenntnisstand in mehrfacher Hinsicht rechtswidrig. Deswegen und wegen des eindeutigen Ergebnisses einer Folgenabwägung ist die Neuregelung bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache außer Vollzug zu setzen.
2. Das Sozialgerichtsgesetz sieht zwar eine Zuständigkeit des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg für eine Normenkontrolle in Bezug auf Richtlinien und Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses vor, bietet dafür aber - anders als etwa § 47 VwGO - kein hinreichendes prozessrechtliches Instrumentarium; der Rückgriff auf die (Norm-)Feststellungsklage und die Regelungsanordnung erlaubt im Lichte von Art 19 Abs 4 GG allenfalls für eine Übergangszeit sachgerechte Ergebnisse. Notwendig sind prozessrechtliche Vorschriften, die für den Bereich der Normenkontrolle eine allgemein verbindliche Entscheidung des Landessozialgerichts ermöglichen (inter-omnes-Wirkung).
Tenor
Der Vollzug von I. Nr. 1 des Beschlusses des Antragsgegners vom 17. Juni 2010 wird bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Klage zum Aktenzeichen L 7 KA 77/10 KL ausgesetzt.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Wert des Verfahrensgegenstandes wird auf 640.000,- Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Die Antragstellerinnen betreiben Krankenhäuser. Sie wenden sich im Eilrechtsschutz gegen die Heraufsetzung der Mindestmengenregelung für Perinatalzentren des Level 1 von 14 auf 30 ab 1. Januar 2011.
Mit dem Gesetz zur Einführung des diagnose-orientierten Fallpauschalensystems für Krankenhäuser (Fallpauschalengesetz, FPG) vom 23. April 2002 (BGBl. I S. 1412) ermöglichte der Gesetzgeber als ein Element der Qualitätssicherung die Einführung von Mindestmengen für die Erbringung bestimmter Leistungen in zugelassenen Krankenhäusern. § 137 Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch (SGB V) bestimmte in der Fassung des FPG u.a.:
(Abs. 1) Die Spitzenverbände der Krankenkassen und der Verband der privaten Krankenversicherung vereinbaren mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft unter Beteiligung der Bundesärztekammer sowie der Berufsorganisationen der Krankenpflegeberufe Maßnahmen der Qualitätssicherung für nach § 108 zugelassene Krankenhäuser einheitlich für alle Patienten. Dabei sind die Erfordernisse einer sektor- und berufsgruppenübergreifenden Versorgung angemessen zu berücksichtigen; dazu ist der Kassenärztlichen Bundesvereinigung Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Die Vereinbarungen nach Satz 1 regeln insbesondere
(…)
(Nr. 3.) einen Katalog planbarer Leistungen nach den §§ 17 und 17b des Krankenhausfinanzierungsgesetzes, bei denen die Qualität des Behandlungsergebnisses in besonderem Maße von der Menge der erbrachten Leistungen abhängig ist, Mindestmengen für die jeweiligen Leistungen je Arzt oder Krankenhaus und Ausnahmetatbestände
(…)
Mit dem 1. Januar 2004 übertrug das Gesetz die Kompetenz für Maßnahmen der Qualitätssicherung im Rahmen von § 137 SGB V dem Gemeinsamen Bundesausschuss (im Folgenden: Antragsgegner; Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung [GKV-Modernisierungsgesetz, GMG] vom 14. November 2003, BGBl. I S. 2190).
Mit dem Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz,GKV-WSG) vom 26. März 2007 (BGBl. I S. 378, gültig ab 1. Juli 2008) wurde § 137 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 SGB V zu § 137 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB V. Die Vorschrift lautet nunmehr im Zusammenhang:
(Abs. 3)
1Der Gemeinsame Bundesausschuss fasst für zugelassene Krankenhäuser grundsätzlich einheitlich für alle Patienten auch Beschlüsse über
(…)
(Nr. 2) einen Katalog planbarer Leistungen nach den §§ 17 und 17b des Krankenhausfinanzierungsgesetzes, bei denen die Qualität des Behandlungsergebnisses in besonderem Maße von der Menge der erbrachten Leistungen abhängig ist sowie Mindestmengen für die jeweiligen Leistungen je Arzt oder Krankenhaus und Ausnahmetatbestände (…)
2 Wenn die nach Satz 1 Nr. 2 erforderliche Mindestmenge bei planbaren Leistungen voraussichtlich nicht erreicht wird, dürfen entsprechende Leistungen nicht erbracht werden. 3Die für die Krankenhausplanung zuständige Landesbehörde kann Leistungen aus dem Katalog nach Satz 1 Nr. 2 bestimmen, bei denen die Anwendung von Satz 2 die Sicherstellung einer flächendeckenden Versorgung der Bevölkerung gefährden könnte; sie entscheidet auf Antrag des Krankenhauses bei diesen Leistungen über die Nichtanwendung ...