Nachzahlungszinsen verfassungswidrig
Hintergrund: Nachzahlungszinsen zur ESt nach Außenprüfung
Das Finanzamt hatte die Einkommensteuer für die Eheleute für 2009 zunächst auf 159.139 EUR festgesetzt. Nach einer Außenprüfung erhöhte es die Einkommensteuer auf 2.143.939 EUR. Nachzuzahlen waren 1.984.800 EUR. In dem mit der Steuerfestsetzung 2009 verbundenen Zinsbescheid für den Zeitraum 1.4.2015 bis 16.11.2017 setzte das Finanzamt Nachzahlungszinsen von 240.831 EUR fest. Die Eheleute legten sowohl gegen den Einkommensteuer- als auch gegen den Zinsbescheid Einspruch ein. Über die Einsprüche ist noch nicht entschieden worden. Das Einspruchsverfahren gegen die Zinsfestsetzung ruht wegen eines beim BVerfG anhängigen Verfahrens.
Die Eheleute begehren die Aussetzung der Vollziehung (AdV) des Zinsbescheids mit der Begründung, die Höhe der Zinsen von 0,5 % pro Monat (6 % pro Jahr) sei verfassungswidrig. Das Finanzamt und das FG lehnten dies ab. Das FG vertrat die Auffassung, verfassungsrechtlichen Bedenken rechtfertigten keine AdV, da das öffentliche Vollzugsinteresse sowie das Interesse an einer geordneten Haushaltsführung höher zu bewerten seien. Gegen die Entscheidung des FG erhoben die Eheleute Beschwerde, der das FG nicht abgeholfen hat.
Entscheidung: Der BFH gewährt Aussetzung der Vollziehung
Der BFH gab dem AdV-Antrag statt. Er hob die ablehnende Entscheidung des FG auf und setzte die Vollziehung des angefochtenen Zinsbescheids aus.
Vorläufiger Rechtsschutz aus verfassungsrechtlichen Gründen
Die Vollziehung eines angefochtenen Bescheids ist (u.a.) auszusetzen, wenn sich bei summarischer Prüfung gewichtige Gründe ergeben, die zu Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung entscheidungserheblicher Rechtsfragen führen. Das kann auch bei verfassungsrechtlichen Zweifeln an der Gültigkeit einer Norm der Fall sein. Die Fachgerichte können dann – schon vor einer erst im Hauptsacheverfahren einzuholenden Entscheidung des BVerfG – bereits vorläufig Rechtsschutz gewähren, wenn dies im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes geboten erscheint.
Verstoß gegen den Gleichheitssatz
Der gesetzliche Zinssatz überschreitet ab 2015 angesichts der eingetretenen strukturellen und nachhaltigen Verfestigung des niedrigen Marktzinsniveaus den angemessenen Rahmen der wirtschaftlichen Realität. Eine sachliche Rechtfertigjung für die gesetzliche Zinshöhe besteht nicht. Auf Grund der modernen EDV-Technik und Automation in der Steuerverwaltung können Erwägungen wie Praktikabilität und Verwaltungsvereinfachung einer Anpassung der seit 1961 unveränderten Zinshöhe an den jeweiligen Marktzinssatz oder an den Basiszinssatz i.S. des § 247 BGB nicht (mehr) entgegenstehen. Außerdem sei es für den Steuerpflichtigen wegen der Niedrigzinsphase im typischen Fall nahezu ausgeschlossen, die zu zahlenden Zinsen durch die Anlage der nicht gezahlten Steuerbeträge tatsächlich zu erzielen.
Zweifel hinsichtlich des Übermaßverbots
Außerdem wirkt sich die realitätsferne Bemessung der Zinshöhe in Zeiten eines strukturellen Niedrigzinsniveaus wie ein dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) widersprechender sanktionierender, rechtsgrundloser Zuschlag auf die Steuerfestsetzung aus.
Berechtigtes Interesse an der AdV
Die Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Zinsregelung hält der BFH für schwerwiegend. Sie gehen über das Maß dessen hinaus, was üblicherweise für die Gewährung von AdV für erforderlich gehalten wird. Die Interessenabwägung fällt daher zugunsten der Eheleute aus. Im Übrigen ist – anders als das FG meinte - nicht ersichtlich, dass die AdV im Streitfall das öffentliche Interesse an einer geordneten Haushaltsführung berühren könnte. Vielmehr ist aufgrund bereits ergangener Entscheidungen und Gesetzesvorhaben davon auszugehen, dass dem Gesetzgeber die Notwendigkeit der Anpassung der Zinshöhe bekannt ist.
Hinweis: Verfassungsgerichtliche Klärung in 2018
Zur Frage, ob der gesetzliche Zinssatz für Verzinsungszeiträume nach dem 31.12.2009 bzw. 31.12.2011 verfassungsgemäß ist, liegt die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des OVG NRW v. 10.7.2014 (14 A 1196/13) dem BVerfG vor (1 BvR 2237/14; betr. Verzinsung nachgeforderter GewSt). Eine Entscheidung in diesem und einem Parallelfall (1 BvR 2422/17) wird in 2018 erwartet. In dem die Verfassungsmäßigkeit bejahenden Urteil v. 9.11.2017 (III R 10/16, Haufe Index 11539357), ging der III. BFH-Senat - für Verzinsungszeiträume des Jahres 2013 – davon aus, es sei nicht nur auf die Anlagezinssätze, sondern auch auf die Finanzierungszinssätze (Kreditkartenkredite, Girokontenüberziehungen) mit einer Bandbreite von 0,15 % bis 14,70 % abzustellen. Diese Begründung lehnt der IX. BFH-Senat nun in der aktuellen Entscheidung ab. Insoweit handele es sich um Sonderfaktoren, die nicht als Referenzwerte für ein realitätsgerechtes Bild geeignet seien.
Übrigens konnte – bzw. musste – der BFH in dem vorliegenden Verfahren die Problematik nicht dem BVerfG vorlegen. Denn bei der AdV geht es um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes in einem summarischen Verfahren. Eine Vorlage an das BVerfG kommt hier nicht in Betracht.
BFH Beschluss vom 25.04.2018 - IX B 21/18 (veröffentlicht am 14.05.2018)
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MfG
besten Dank für den Hinweis. Da sind uns tatsächlich die Zahlen verrutscht. Der Text ist jetzt korrigiert.
MfG, Frank Holst, Haufe Online-Redaktion