Einkommensteuer als Masseverbindlichkeit nach Insolvenzeröffnung
Hintergrund
Der Insolvenzschuldner X hatte eine Bäckerei mit drei Ladenlokalen betrieben. Mit Beschluss des Amtsgerichts (Insolvenzgericht) vom 8.2.2006 wurde über das Vermögen des X das Insolvenzverfahren eröffnet und I zum vorläufigen Insolvenzverwalter bestimmt. X hatte seinen Gewinn letztmalig für 2003 durch Einnahme-Überschussrechnung ermittelt. Am 3.2.2006, d.h. kurz vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens und Bestellung des I, veräußerte ein Treuhandbüro im Namen und im Auftrag des X die Einrichtungsgegenstände der Ladenlokale und weitere Anlagegegenstände sowie den Warenbestand. Der Kaufpreis floss der Insolvenzmasse nach Insolvenzeröffnung am 14.2.2006 zu.
Da weder X noch I für das Streitjahr 2006 eine ESt-Erklärung eingereicht hatten, schätzte das FA die Besteuerungsgrundlagen und teilte die Steuern auf die Zeit vor und nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens auf. Dabei sah es den ESt-Anspruch aus der Veräußerung der Anlagegegenstände als Masseverbindlichkeit an, da bei der Einnahme-Überschussrechnung das Zuflussprinzip gelte (Zufluss nach Insolvenzeröffnung). I wandte dagegen ein, es handele sich um eine Insolvenzforderung. Denn mit dem Abschluss des Kaufvertrags vom 3.2.2006 und der Überlassung der Kaufgegenstände sei der Betrieb vor der Insolvenzeröffnung aufgegeben worden. Der Aufgabegewinn sei durch Bestandsvergleich zu ermitteln, sodass es nicht auf den Zufluss ankomme. Mit der Betriebsaufgabe sei es daher bereits vor der Insolvenzeröffnung zur vollständigen Verwirklichung des Steuertatbestands gekommen. Das FG wies die Klage unter Hinweis auf das Zuflussprinzip ab. Außerdem sei in der Verwertung der Anlagegegenstände noch keine Betriebsaufgabe zu sehen.
Entscheidung
Für die insolvenzrechtliche Begründung einer Steuerforderung ist maßgebend, ob der einzelne (unselbständige) Besteuerungstatbestand vor oder nach der Insolvenzeröffnung verwirklicht wurde. Das richtet sich ausschließlich nach steuerrechtlichen Grundsätzen. Entscheidend ist, wann der Tatbestand, an den die Besteuerung knüpft, vollständig verwirklicht ist. Bei der Gewinnermittlung durch Einnahme-Überschussrechnung gilt das Zuflussprinzip, beim Betriebsvermögensvergleich das Realisationsprinzip. Die Steuerforderung ist daher beim Betriebsvermögensvergleich nicht erst beim Zufluss, sondern bereits mit der steuerrechtlichen Realisation der Forderung insolvenzrechtlich begründet. Die Abgrenzung zwischen Insolvenzforderungen und (sonstigen) Masseverbindlichkeiten richtet sich ausschließlich nach dem Zeitpunkt der insolvenzrechtlichen Begründung, d.h. nach der Verwirklichung des gesetzlichen Besteuerungstatbestands. Auf die steuerrechtliche Entstehung des Anspruchs - für die ESt grundsätzlich erst mit Ablauf des Veranlagungszeitraums (§ 36 Abs. 1 EStG) - kommt es dagegen nicht an.
Der BFH hebt hervor, dass spätestens mit dem Vertrag vom 3.2.2006 (vor Insolvenzeröffnung) die Betriebsaufgabe begonnen hat und der Aufgabegewinn (wie ein Veräußerungsgewinn) für den Zeitpunkt der Betriebsaufgabe durch Betriebsvermögensvergleich zu ermitteln ist. Der Unternehmer, der bisher seinen Gewinn durch Einnahme-Überschussrechnung ermittelt hat, muss insoweit zwingend zum Betriebsvermögensvergleich übergehen. Für die Gewinnverwirklichung ist dabei nicht der Beginn der Betriebsaufgabe, sondern der Zeitpunkt des einzelnen Aufgabeteilakts entscheidend, sodass der Betriebsaufgabegewinn in verschiedenen Veranlagungszeiträumen und ebenso teils vor und teils nach der Insolvenzeröffnung entstehen kann. Abweichend hiervon hat das FG auf den Zeitpunkt des Beginns der Betriebsaufgabe abgestellt und angenommen, die wesentlichen Betriebsgrundlagen seien nicht vor der Insolvenzeröffnung veräußert oder entnommen worden. Dem widerspricht der BFH. Denn zumindest die Veräußerung des Anlagevermögens der drei Verkaufsstellen ist geeignet, objektiv den Betriebsaufgabewillen zu bekunden. Folglich ist der Aufgabegewinn durch Betriebsvermögensvergleich zu ermitteln, sodass nicht das Zuflussprinzip, sondern das Realisationsprinzip maßgeblich ist. Die Aufteilung richtet sich sodann danach, ob die einzelnen Aufgabeteilakte vor oder nach der Insolvenzeröffnung verwirklicht wurden.
Mangels ausreichender Feststellungen des FG konnte der BFH allerdings nicht entscheiden, ob die Kaufpreisforderung des X aus dem Vertrag vom 3.2.2006 vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens realisiert wurde. Denn es blieb unklar, ob I bei Abschluss des Vertrags mit Zustimmung des Insolvenzgerichts gehandelt hat. Zur Stilllegung des Betriebs war er nur vorbehaltlich der Zustimmung des Insolvenzgerichts befugt. Außerdem war unklar, ob und wann Gebäudeteile entnommen wurden. Der BFH hob daher das FG-Urteil auf und verwies die Sache zur weiteren Sachverhaltsaufklärung an das FG zurück.
Hinweis
Im Streitfall hat das Insolvenzgericht I nicht als vorläufigen Insolvenzverwalter bestellt, auf den die Verfügungsbefugnis über das Schuldnervermögen übergegangen ist (§ 55 Abs. 2 InsO). Es hat ihn nur mit einem Zustimmungsvorbehalt ausgestattet. I war daher kein "starker" vorläufiger Insolvenzverwalter und konnte folglich keine Masseverbindlichkeiten nach § 55 Abs. 2 Satz 1 InsO begründen.
Nach § 55 Abs. 4 InsO in der Fassung ab 2011 gelten Verbindlichkeiten des Insolvenzschuldners aus dem Steuerschuldverhältnis, die von einem vorläufigen Insolvenzverwalter oder vom Schuldner mit Zustimmung eines vorläufigen Insolvenzverwalters begründet worden sind, nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens als Masseverbindlichkeit. Für das Streitjahr (2006) existierte jedoch keine entsprechende Regelung. Daher waren die ESt-Forderungen nicht bereits deshalb als Masseverbindlichkeiten anzusehen, weil I im Zeitpunkt des Abschlusses des Kaufvertrags als vorläufiger Insolvenzverwalter (mit Zustimmungsvorbehalt) bestellt war. Mit der Neuregelung sollten lediglich für die Zukunft die Tatbestände, nach denen Masseverbindlichkeiten entstehen, erweitert werden.
BFH, Urteil v. 9.12.2014, X R 12/12, veröffentlicht am 17.8.2016
Alle am 17.8.2016 veröffentlichten Entscheidungen des BFH
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