BVerfG-Vorlage zur Verlustverrechnungsbeschränkung für Aktienveräußerungsverluste
Hintergrund: Ausgleich der Verluste aus der Veräußerung von Aktien
Streitig ist, ob Verluste aus der Veräußerung von Aktien mit Einkünften aus Kapitalvermögen ausgeglichen werden können, die nicht aus Aktienveräußerungen resultieren.
X erzielte (neben freiberuflichen Einkünften) im Streitjahr 2012 aus der Veräußerung von Aktien ausschließlich Verluste. Er beantragte, diese Verluste mit seinen sonstigen Einkünften aus Kapitalvermögen, die nicht aus der Veräußerung von Aktien herrührten, zu verrechnen.
Das FA lehnte dies ab. Die Verluste aus der Veräußerung von Aktien seien nach § 20 Abs. 6 Satz 5 (jetzt Satz 4) EStG nicht ausgleichsfähig. Ebenso entschied das FG und wies die Klage ab. § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Der Gesetzgeber habe drohende Haushaltsrisiken berücksichtigen dürfen.
Mit der Revision beanstanden die Eheleute die Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes. Die Benachteiligung der Veräußerungsverluste von Aktien gegenüber solchen aus anderen Kapitalanlagen sei nicht gerechtfertigt.
Entscheidung: Verstoß gegen den Gleichheitssatz
Der BFH schließt sich in dieser seit langem umstrittenen Frage der ganz überwiegend im Schrifttum vertretenen Auffassung an, dass § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG mit dem Gleichheitsgrundsatz unvereinbar ist (z.B. Moritz/Strohm in Frotscher/Geurts, EStG § 20 n.F. Rz 51 f). Die Regelung enthält insoweit einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG, als die Aktienveräußerungsverluste nur mit Aktienveräußerungsgewinnen und nicht mit anderen positiven Einkünften aus Kapitalvermögen verrechnet werden können, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede in der wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit bestehen. Das gilt insbesondere, wenn Steuerpflichtige, die Verluste aus der Veräußerung von Aktien erzielt haben, gegenüber Steuerpflichtigen mit Verlusten aus der Veräußerung aktienbasierter Kapitalanlagen, die keine Aktien sind, schlechter gestellt werden.
Verletzung des Grundsatzes der Folgerichtigkeit
Dem Gesetzgeber steht zwar die Gestaltungsfreiheit zu, im Hinblick auf die gesamtgesellschaftlichen Anforderungen die Kapitaleinkünfte abweichend von den anderen Einkunftsarten zu besteuern. Gleichwohl bleibt er jedoch verpflichtet, die Besteuerung innerhalb des Bereichs (Schedule) der Kapitaleinkünfte folgerichtig, d.h. gleichheitsgerecht, auszugestalten. Dieser Verpflichtung genügt das Gesetz mit der speziellen Verlustausgleichsbeschränkung in § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG nicht. Die Regelung weicht von der gesetzgeberischen Grundentscheidung, innerhalb der Kapitaleinkünfte folgerichtig eine Verrechnung von Verlusten mit positiven Einkünften zuzulassen (§ 20 Abs. 6 Satz 2 EStG) ab, indem sie vorhergehende Veräußerungsgewinne aus Aktien uneingeschränkt besteuert und Veräußerungsverluste aus Aktien abweichend von der allgemeinen Regelung einer zusätzlichen Verlustverrechnungsbeschränkung unterwirft.
Ein die Ungleichbehandlung rechtfertigender Grund liegt nicht vor
Es fehlt ein sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung. Er ergibt sich weder aus der Gefahr der Entstehung erheblicher Steuermindereinnahmen aufgrund qualifizierter Haushaltsrisiken noch aus dem Gesichtspunkt der Verhinderung missbräuchlicher Gestaltungen. Denn die Herbeiführung von Verlustverrechnungspotential stellt keinen Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten dar, weil der Steuerpflichtige, wenn er sich durch die Veräußerung von Verlustaktien trennt, nicht gegen eine gesetzlich vorgegebene Wertung verstößt, sondern im Gegenteil von der ihm in § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG gesetzlich eingeräumten Möglichkeit Gebrauch macht (BFH v. 12.6.2018, VIII R 32/16, BStBl II 2019, 221, Rz 21).
Andere außerfiskalischen Förderungs- und Lenkungsziele oder der rein fiskalische Zweck staatlicher Einnahmenerhöhung kommen als Rechtfertigungsgrund ebenfalls nicht in Betracht. Der Steuerpflichtige kann der Ungleichbehandlung auch nicht durch andere (auch aktienbasierte) Kapitalanlagen ausweichen. Ein mögliches Ausweichverhalten könnte die Ungleichbehandlung nur dann rechtfertigen, wenn es zumutbar wäre und insbesondere nicht die Ausübung der grundrechtlich geschützten Freiheiten hindern würde (BVerfG v. 15.1.2008, BvL 2/04, BVerfGE 120, 1, Rz 135). Das fehlt hier. Der Steuerpflichtige muss sich nicht auf andere Anlageformen verweisen lassen.
Eine verfassungskonforme Auslegung des § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG scheidet aus
§ 20 Abs. 6 Satz 5 EStG kann für den Streitfall nicht einschränkend dahin ausgelegt werden, dass Verluste aus Aktienveräußerungen mit anderen positiven Erträgen aus Aktien i.S. des § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG (z.B. Dividenden) verrechnet werden können. Dem steht der eindeutige Wortlaut entgegen. Denn nach § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG ist ein Ausgleich nur mit Gewinnen aus Kapitalvermögen i.S. des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 EStG, die aus der Veräußerung von Aktien entstehen, möglich. Auch nach dem in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck kommenden Willen des Gesetzgebers (BT-Drs. 16/5491, S. 19) sollte eine Verrechnung der Aktienveräußerungsverluste mit jeglichen anderen Einkünften aus Kapitalvermögen, insbesondere auch mit Zins- und Dividendeneinkünften, ausgeschlossen sein.
Hinweis: Pflicht zur Vorlage an das BVerfG
Ergeben sich für ein Gericht (FG oder BFH) Zweifel hinsichtlich der Verfassungswidrigkeit einer im Streitfall entscheidungserheblichen Regelung, ist zunächst zu prüfen, ob im Wege der Auslegung eine verfassungsgemäße Lösung gefunden werden kann. Ist jedoch – wie im Streitfall – der Wille des Gesetzgebers klar ersichtlich, kann auch im Wege einer verfassungskonformen Auslegung das Gesetz nicht entgegen seinem Wortlaut angewendet werden. Hält ein Gericht danach ein Gesetz für verfassungswidrig, muss es die verfassungsrechtliche Frage dem BVerfG vorlegen (Art. 100 Abs. 1 GG).
Entsprechende Verfahren sollten bis zur Entscheidung des BVerfG offen gehalten werden.
BFH Beschluss vom 17.11.2020 - VIII R 11/18 (veröffentlicht am 04.06.2021)
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