Bei einem Großereignis wie einer Fußball-Europameisterschaft kommen Menschen aus vielen Ländern zusammen, die der Sport verbindet. Es soll ein Fußballfest für alle werden. Europa und die Welt schauen auf dieses sportliche Großereignis. Das bietet die Chance, gesellschaftlichen Themen wie Gesundheit, Bewegung, Gemeinsinn und Menschenrechten große Aufmerksamkeit zu verschaffen. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Die rund 2,8 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer in den Stadien – so viele Tickets stehen jedenfalls zum Verkauf – werden anreisen, übernachten, essen, trinken, Müll verursachen, Abwasser verunreinigen, Merchandising-Artikel kaufen. Hinzu kommen die Reisen der Nationalteams und Menschen, die sich in Fan-Zonen der zehn Gastgeber-Städte, den sogenannten „Host Cities“, die Spiele verfolgen oder an Aktivitäten rund um die EM teilnehmen.
Die Zuständigkeiten und der „One-Team-Approach“
Eines vorneweg: Ein Großevent wie die Herren-Fußball-EM nachhaltig zu gestalten, ist eine Mammutaufgabe. Um bewerten zu können, ob die Ampeln kurz vor Turnierbeginn in Sachen Nachhaltigkeit auf Grün stehen, muss man die organisatorischen Gegebenheiten und Verantwortlichkeiten kennen. EM-Ausrichter sind die UEFA und der DFB. Die beiden Fußballverbände haben das Joint Venture Euro 2024 GmbH mit Sitz in Frankfurt gegründet, die als Organisationskomitee für alles zuständig ist, was sich in den Stadien abspielt. In den Fan-Zonen wiederum haben die zehn Host Cities den Hut auf – also die Städte Berlin, Köln, Dortmund, Düsseldorf, Frankfurt, Gelsenkirchen, Hamburg, Leipzig, München und Stuttgart.
Im März 2021 stellten die UEFA und der DFB ihre Nachhaltigkeitsstrategie vor, die in die „UEFA Euro 2024 ESG-Strategie“ mündete, veröffentlicht im Juli 2023. Die zehn Host Cities haben diese in ihre jeweils eigene ESG-Strategie heruntergebrochen. Für die Umsetzung gründeten die Verantwortlichen zusammen mit der Politik den nationalen Koordinierungsausschuss (NKA), den der Turnierverantwortliche Philipp Lahm und die Staatssekretärin im Bundesinnenministerium Juliane Seifert leiten. Im NKA ist die AG Nachhaltigkeit angesiedelt, die ein gemeinsames Verständnis für Nachhaltigkeitsfragen fördern soll. „Wir sprechen von einem One-Team-Approach und tauschen uns regelmäßig mit den Host Cities aus“, sagt Tim Thormann, Sustainability Manager der Euro 2024 GmbH. Das dreiköpfige Nachhaltigkeitsteam der Verbandstochter steht darüber hinaus in engem Kontakt mit dem Nachhaltigkeitsteam am Hauptsitz der UEFA in Nyon, wo zwölf Personen als Sustainability Manager und Menschenrechtsexpert:innen arbeiten. Denn das Ganze soll auch zur UEFA-Strategie für nachhaltigen Fußball 2030 passen. Deshalb spielen sich die beiden Teams bei der Umsetzung der Nachhaltigkeitsstrategie die Bälle zu.
Der größte Umwelt-Batzen: Mobilität
Die Vorbedingungen für eine nachhaltige EM in Deutschland sind gut: Die Stadien mussten für das Turnier nicht neu gebaut werden. Deutschland liegt in der Mitte Europas, was die Anreise für die Fans insgesamt verkürzen kann. Und die Standards im Bundesligabetrieb sind teilweise recht hoch. Neben Umwelt sollen aber auch die Bereiche Soziales und Governance zum Tragen kommen. „Dieser integrative Ansatz ist genau richtig. Und der Wille der Verantwortlichen, Fortschritte für Nachhaltigkeit zu erzielen, ist vorhanden“, sagt Michael Kracht, Referatsleiter im Bundesumweltministerium.
In ökologischer Hinsicht hat die Dimension Verkehr den größten Impact. Laut einer Machbarkeitsstudie des Öko-Instituts von Juli 2022 werden knapp 85 Prozent der Gesamtemissionen bei der EM durch Mobilität verursacht – 66 Prozent durch Flüge und 14 Prozent durch PKW-Fahrten. „Das ist nur ein Richtmaß, denn man arbeitet bei einer ex-ante Klimabilanz so lange vor der Euro mit vielen Annahmen“, erklärt Dr. Hartmut Stahl, Senior Researcher im Öko-Institut und Mitautor der Studie. Vieles hänge etwa davon ab, welche Länder tatsächlich dabei seien. Die Studie stellte hierzu verschiedene Szenarien vor und quantifiziert, wie viel Spielraum beim Reiseverhalten besteht.
Um den Flugverkehr zu reduzieren und unattraktiver zu machen, hat man die Deutsche Bahn als nationalen Partner der UEFA ins Boot geholt. Sie will zusätzliche Züge rund um die Spiele bereitstellen. Es gibt ein Fanticket, mit dem Zuschauer für 29,90 Euro in der zweiten Klasse zum Spielort fahren können – gültig nur für Personen mit Eintrittskarte. Mit dem Stadionticket kann man zudem kostenfrei den ÖPNV benutzen. Für Reisende mit Wohnsitz außerhalb Deutschlands ist ein Interrail-Pass zur Euro erhältlich. Der Preis dafür hängt davon ab, wie viele Tage man unterwegs ist.
Wird das die Fahrgäste wirklich zum Umstieg auf die Deutsche Bahn bringen? „Wenn der Flug teurer ist als die Bahnfahrt, entscheiden sich mehr Menschen für den Zug“, meint Tim Thormann. Wäre der Preis gleich, spiele Bequemlichkeit die größere Rolle. Um Emissionen zu reduzieren, wurde der Spielplan so gestaltet, dass mindestens zwei Gruppenspiele im gleichen Cluster stattfinden – also in Host Cities, die nicht zu weit voneinander entfernt liegen. Außerdem hat die UEFA die Teams motiviert, das Base Camp in ihrem Cluster zu benutzen. „Damit haben sich die Flugreisen der Teams in der Gruppenphase um 75 Prozent reduziert“, so Thormann. Dies habe auch eine Vorbildfunktion für Fans. „Und für die unvermeidbaren Emissionen haben wir einen Klimafonds aufgesetzt.“
Klimafonds: Idee der Klimaverantwortung
Schon mehr als ein Jahrzehnt steht im Sport ein solcher Klimafonds zur Diskussion – umgesetzt wird er nun das erste Mal. Die Idee: Klimaverantwortung übernehmen, indem man ein Budget bereitstellt, das sich aus den nicht vermeidbaren Treibhausgasemissionen und einem Preis je Tonne CO2 ergibt. Die Verantwortungstragenden zahlen dieses Budget in den Klimafonds ein, über den Klimaschutzprojekte von Sportvereinen gefördert werden. Das soll eine Alternative zu Klimakompensation darstellen, die mehr und mehr in Verruf geraten ist. Viele Zertifikate halten nicht, was sie versprechen. Die Kompensationsmethode ist zudem ungeeignet, um auf Nettonull zu kommen. Deshalb soll es bei der UEFA Euro 2024 keine Kompensation geben.
Das Öko-Institut hat die Idee des Klimafonds in seiner Machbarkeitsstudie ins Spiel gebracht – mit verschiedenen potentiellen Finanzierungs- und Berechnungslogiken. Konkret sieht die Lösung für die EM nun so aus, dass die UEFA aus ihren Einnahmen 7 Millionen für Förderprojekte im Amateurfußball bereitstellt. Vereine können bis 30. Juni finanzielle Unterstützung für Klimaschutzprojekte in den vier Kategorien Energie, Wasser, Abfallwirtschaft und Mobilität beantragen – also etwa für die Installation von LED-Flutlichtern, Photovoltaik-Solarzellen, Wärmedämmung oder Wasserspar-Duschköpfe. Schon mehr als 4.300 Vereine aus allen 21 Landesverbänden haben seit der Ankündigung des Klimafonds am 8. Januar Anträge eingereicht – in Höhe von 60 Millionen Euro. Das zeigt, wie hoch der Bedarf ist. Überlegungen für einen dauerhaft wirkenden „Klimafonds des Sports“ gibt es schon länger, das Bundesumweltministerium hat dessen mögliche Ausgestaltung jetzt genauer prüfen lassen. Wie es weitergeht, ist aber noch offen.
Viele Seiten überzeugt der Ansatz eines Klimafonds. Thomas Fischer, Bereichsleiter Kreislaufwirtschaft der Deutsche Umwelthilfe, ist jedoch skeptisch. Man müsse hinterfragen, welche Emissionen wirklich unvermeidlich seien. „Kurzflüge werden nicht weniger klimaschädlich, nur weil Energiesparlampen in der Umkleide eines Amateurvereins angebracht werden. Sie gehören bei der EM verboten und sollten nicht mit dem Klimafonds schöngeredet werden.“ Zudem scheiden sich die Geister daran, ob der Topf groß genug ist. Die UEFA rechnet bei der EM 2024 mit einem Umsatz von mehr als zwei Milliarden Euro und einem Gewinn von über einer Milliarde. Da erscheinen 7 Millionen wenig. Das Öko-Institut hatte mit drei Preismodellen für die Tonne CO₂ kalkuliert – 25, 75 und 100 Euro. Letztlich ist es bei 25 Euro pro Tonne geblieben. „Das ist viel zu wenig“, kritisiert Thomas Fischer. Er verweist darauf, dass in Deutschland bereits seit Anfang 2024 eine Tonne CO₂ mit 45 Euro bepreist ist, in Europa sind es aktuell rund 75 Euro.
Kurzflüge werden nicht weniger klimaschädlich, nur weil Energiesparlampen in der Umkleide eines Amateurvereins angebracht werden.
Thomas Fischer, Deutsche Umwelthilfe
Wie viel Emissionen es tatsächlich werden, zeigt sich erst im Nachhinein. Die Euro 2024 GmbH hat sich aber entschieden, bereits im Vorfeld zu handeln, um die Projekte schnell zum Laufen zu bringen. Tim Thormann weist darauf hin, dass 25 Euro einem guten Preis auf dem freiwilligen Kompensationsmarkt entsprechen – etwa dem für Zertifikate mit Goldstandard. Da sei man sich mit dem Bundesumweltministerium einig. „Wir übernehmen gerne freiwillig Verantwortung. Aber es ist nicht die Aufgabe der UEFA oder Euro 2024 GmbH, die komplette Sport-Infrastruktur in Deutschland zu erneuern.“
Zudem waren die Fanzonen in der ex-ante Bilanz mit eingeflossen. Diese fallen der Euro 2024 GmbH zufolge aber in den Verantwortungsbereich der Host Cities und des Tourismus, der von hohen Hotelpreisen profitiere. Deshalb sollte hier der „Deutsche Klimafond Tourismus“ (DTK) zum Einsatz kommen, ein vom Bundesverband der Deutschen Tourismuswirtschaft (BTW) initiiertes und von der Nationalen Klimaschutzinitiative (NKI) des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz gefördertes Projekt. Allgemein geht es hier darum, die deutsche Tourismusbranche fachlich und finanziell dabei zu unterstützen, Treibhausgasreduktionen zu erreichen. Kurz vor Turnierstart steht nun fest, dass der DTK bei der Euro nicht umgesetzt werden kann. Ob es eine Alternative gibt, war auf Nachfrage bei den Projektverantwortlichen nicht zu erfahren.
Menschenrechte und Diversity im Fokus
Im Bereich Soziales und Governance stehen Barrierefreiheit und Menschenrechte im Vordergrund. „Es ist das erste Mal, dass die Verantwortlichen eines großen Herren-Turniers zusammen mit ihren Partnern eine Erklärung für Menschenrechte abgegeben haben“, so Tim Thormann. Ende 2023 ging eine Beschwerdestelle online, zunächst vor allem für Menschrechtsverletzungen in den Lieferketten. Viel zu spät, meinen Menschenrechtsorganisationen. Denn Personen, die in Zulieferbetrieben wie den Produzenten der Merchandising-Produkte arbeiten, müssen erst davon erfahren. Die Meldungen werden von einer Anwaltskanzlei bearbeitet, die ermitteln soll, ob es sich tatsächlich um Menschenrechtsverletzungen handelt. Entscheidend wird jedoch auch sein, wie Abhilfe-Mechanismen aussehen und ob Menschenrechtsexpertinnen und -experten gegebenenfalls auch vor Ort die Vorwürfe prüfen.
Ab 1. Juni erweitert sich der Fokus der Beschwerdestelle auf Fans, die nach Deutschland kommen. Hier soll unter anderem geprüft werden, ob die UEFA zuständig ist – oder Partner der Euro wie etwa die Deutsche Bahn.
Es ist das erste Mal, dass die Verantwortlichen eines großen Herren-Turniers zusammen mit ihren Partnern eine Erklärung für Menschenrechte abgegeben haben.
Tim Thormann, Euro 2024 GmbH
Da die UEFA Euro in Deutschland stattfindet, gilt hier erstmals auch das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) – allerdings nur für Unternehmen ab 1.000 Mitarbeitenden. „Der Supplier Code der UEFA enthält bereits Menschenrechts- und Nachhaltigkeitskriterien. Wir haben uns aber auch freiwillig dazu bekannt, die Grundsätze des LkSG einzuhalten“, sagt Tim Thormann von der Euro 2024 GmbH. Die Schwierigkeiten dabei sind bekannt: Viele, vor allem kleine Dienstleiter können zentrale Fragen zu ihren Lieferketten noch gar nicht beantworten, was eine entsprechende Auswahl erschwert.
Im Stadion selbst soll ein Rapid-Response-Mechanismus greifen, basierend auf einem eigenen Awareness-Konzept. Sexuelle Gewalt, Unwohlsein, verbale Übergriffe – hier bekommen die Fans psychologische Erste Hilfe und können sich falls nötig in einen „Safe Space“ zurückziehen, so der Ansatz. QR-Codes sollen dazu in den Stadien bereitstehen. Tickets mit „easy access“ für Personen mit Behinderungen, Sitze, die ohne Zugang über Stufen erreichbar sind, ein audiodeskriptiver Kommentardienst – das sind einige der Maßnahmen für einen barrierefreien Turnier-Zugang für alle. Geschlechtsneutrale Eingangskontrollen und drei bis vier genderneutrale Toiletten-Blöcke pro Stadion sind insbesondere für die LGBTQ+ Community vorgesehen.
Aktivitäten der Host Cities – Beispiel Stuttgart
Ähnliche Maßnahmen sind auch in den Fan-Zonen im Einflussbereich der Gastgeber-Städte geplant – zum Beispiel in Stuttgart. Hier steht das „Euro 2024 Festival“ mit sogenannten „Fan Zones“ auf vier Innenstadtplätzen auf dem Programm. Am Schlossplatz ist das Public Viewing vorgesehen, am Marktplatz, Karlsplatz und Schillerplatz gibt es weitere Aktivitäten und Gastrostände. Die Stadt stellt mehr als 900 zusätzliche Fahrradabstellanlagen bereit – 400 an der „Fan Zone Schlossplatz“ und 500 an der Arena Stuttgart. Gut ausgeschilderte Fußrouten sollen Menschen zudem dazu motivieren, vom Bahnhof zu Fuß zu gehen. Jeder und jede soll sich willkommen fühlen. Dazu wurde der Inklusionsbeirat „Expert:innen in eigener Sache“ gegründet und in die Planung der Veranstaltung einbezogen. In unmittelbarer Nähe vom Public Viewing gibt es „Drop-On- und Drop-Off-Zonen“, um Menschen mit Behinderung die An- und Abreise zu erleichtern. Hinzu kommen barrierearme Zugänge für Rollstuhlfahrende, Podeste, ein Service-Point im Public-Viewing-Bereich und eine induktive Höranlage für Menschen mit Hörbehinderung.
„Unser Ziel ist es, wichtige Themen spielerisch zu vermitteln“, so Ellen Schmid, stellvertretende Ressortleiterin Nachhaltigkeit der Host City Stuttgart. „Wir möchten die positive Energie des Turniers nutzen, um Mitarbeitende, Dienstleistende, Lieferanten und natürlich die Fans, Besucherinnen und Besucher zu inspirieren und zu motivieren, sich mit den Nachhaltigkeitsthemen auseinanderzusetzen und bestenfalls auch ihr Handeln entsprechend zu überdenken.“ In den Fan Zones gebe es einen Nachhaltigkeitspavillon, im dem sich verschiedene NGOs präsentieren. Ein Fußballfeld, auf dem verschiedene organisierte Turniere stattfinden und man sich spontan zum Kicken treffen kann, Tischkicker, ein Beachsoccer-Feld – durch verschiedene Angebote möchte die Host City Stuttgart zu mehr Bewegung und gesunder Ernährung animieren. In Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Strahlenschutz würden Sonnencremespender in der „Fan Zone Schlossplatz“ bereitgestellt. An allen bespielten Plätzen habe man Trinkwasserinstallationen. Begrünte Sitzgelegenheiten sollen auf Biodiversität und neue Notwendigkeiten in Zeiten des Klimawandels hinweisen.
Die Host City Stuttgart nutze Mehrwegbecher in den Fan Zones. Gastronomen bekämen ganze Checklisten mit Empfehlungen, wie sie Speisen ausgeben können, um Müll zu reduzieren. Zum Beispiel sollen sie bestenfalls Essen auf die Hand, in der Papierserviette oder Papiertüte servieren. Sie seien zudem angehalten, auf ein vielseitiges und nachhaltiges Angebot zu achten, indem sie auch vegane und vegetarische sowie regionale Speisen anbieten. Auf den Plätzen jenseits von Public Viewing komme auch Mehrweggeschirr zum Einsatz. Neben Mülltrennung und der Ausgabe von Taschenaschenbechern, hergestellt aus Recyclingmaterial, gebe es eine Kooperation mit Foodsharing. „Foodsaver“ holen übrig geblieben Speisen ab und verteilen diese. Für Abfall, der nicht vermieden werden könne – wie etwa bei Fahnen und Bannern – hat das Nachhaltigkeitsteam der Host City ein Upcycling-Projekt mit der Lederschmiede Stuttgart geplant.
„Jede Host City setzt die Nachhaltigkeitsstrategie etwas anders um, passend zu den lokalen Gegebenheiten“, berichtet Ellen Schmid. Im Austausch mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen Städten hätten sich in der Vorbereitungsphase jedoch viele Synergien ergeben, da alle vor ähnlichen Herausforderungen stehen.
Kritikpunkte: Schwammige Zielvorgaben und niedriges Ambitionsniveau
Auch in den Stadien sind Mehrwegbecher, Mülltrennung und Food Saving vorgesehen. Außerdem sollen laut der offiziellen Nachhaltigkeitsstrategie von Juli 2023 die Stadien den Stromverbrauch reduzieren und auf erneuerbare Energien umstellen. „Verkehr, Klimagasemissionen, Müll und Wertstoffe – die Handlungsfelder sind richtig und es gibt sinnvolle Maßnahmen. Aber die Formulierung in dem Papier wird nicht konkret genug“, findet Thomas Fischer von der Deutschen Umwelthilfe. KPIs wie verringerter Verkehr um das Stadion – das fänden alle gut, dies lasse aber zu viele Fragen offen. „Es gibt keine klaren Indikatoren, wann das Ziel erreicht ist.“ Man habe es verpasst, vorbildliche Maßnahmen einzelner Stadien zum Standard zu machen. So verbiete Werder Bremen etwa Autos im Umfeld des Weserstadions. Auch das Ziel, die Zahl der Kurzflüge zu reduzieren, genüge nicht. Mit guter Planung und klaren Vorgaben hätte man aus Sicht der Deutschen Umwelthilfe mehr erreichen können. Ähnlich bei der Stromversorgung der Stadien: Diese sollen zu 100 Prozent mit erneuerbaren Energien betrieben werden. Hier wäre es aus Sicht des Umweltschutzexperten wichtig gewesen, bestimmte Zertifikate dafür vorzuschreiben oder gleich selbst erzeugten Eigenstrom zu fordern – viele Spielstätten seien dazu schon in der Lage.
Andere Kennzahlen wiederum sind konkreter, ergeben jedoch aus Sicht des Deutschen Umwelthilfe wenig Sinn – wie etwa der Anteil des Personals der Euro 2024 GmbH und der UEFA, der innerhalb Deutschlands intelligente Mobilitätslösungen nutzt. „Hier bleibt unklar, wie man das gewichten will und welche Konsequenzen sich ergeben, wenn Mitarbeitende Kurzstreckenflüge nehmen“, so Fischer. Eine weitere Kennzahl lautet: Anteil an UEFA-Gästen, der über die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel informiert ist. „Das ist kein passender Erfolgsindikator. Man muss messen, wie viele Leute sich tatsächlich nachhaltig verhalten“, so Fischer.
Statt den Anteil an verpackungsarmen Produkten als Kennzahl zu nehmen, hätte man gleich bestimmte Verpackungsarten wie Kleinstverpackungen für Ketchup, Mayo und Salz verbieten sollen. Union Berlin beispielsweise nutze im Ligabetrieb bereits Großspender, aber das sei keine Selbstverständlichkeit. Auch die Formulierung „wiederverwendbare bzw. umweltfreundliche Becher“ sei irreführend. Zwar sollen nun nach Angaben der Euro 2024 GmbH nur Mehrwegbecher zum Einsatz kommen, aber in der Nachhaltigkeitsstrategie steht davon nichts. Wollte man sich im Vorfeld ein Hintertürchen offenhalten? Zudem hätte man Menüschalen für Speisen fordern können. Das Thema Merchandising taucht im Nachhaltigkeitskonzept gar nicht auf. Hier verweist die Euro 2024 GmbH auf die Umsetzung durch den Partner Fanatics und deren Impact Report.
Ein Vorbild für andere Großveranstaltungen?
Ob die Herren-Fußball-Europameisterschaft als Blaupause für die Nachhaltigkeitsstrategie anderer Großveranstaltungen taugt, lässt sich letztlich erst im Nachhinein bewerten, je nachdem, wie die Nachhaltigkeitsbilanz ausfällt. Learnings gibt es schon heute. „Wenn man die Anspruchshaltung formuliert, die nachhaltigste EM aller Zeiten zu werden, dann muss man sich daran messen lassen“, meint Fischer. Deshalb sei es nicht nachvollziehbar, warum die Euro 2024 GmbH nicht im Vorfeld auf Umweltverbände zugegangen sei, um das eigene Konzept zur Diskussion zu stellen. „Ein aktiver Austausch wurde nicht gesucht. Wenn wir uns nicht gemeldet hätten, wäre es nie zu einer Kontaktaufnahme gekommen.“ Man scheint Angst gehabt zu haben, an Zielen gemessen zu werden und deshalb waren sie nicht ambitioniert genug – auch wenn Punkte durchaus so umgesetzt sein können, wie Umwelt- und Menschenrechtsverbände fordern.
Die Euro 2024 GmbH nennt andere Gründe: „Nachhaltigkeitsstandards entwickeln sich rasend schnell. Wir sind in der Ausgestaltung laufend darauf eingegangen“, sagt Tim Thormann. Es gehe um den gesamten Prozess, immer nachhaltiger zu werden, und nicht um Einzelmaßnahmen.
Schon während des Turniers soll es immer wieder Nachbesprechungen im Operation Center in Frankfurt bei der Euro 2024 GmbH geben. Dort laufen die Fäden zusammen, gehen also die Information der zehn Value Sustainability Manager oder Managerinnen der UEFA ein, die vor Ort in den Stadien sind und die rund 50 Volunteers pro Spiel betreuen. Zudem soll es Auswertungen der Besucherströme und Befragungen der Gäste geben, die in zwei Evaluationsstudien einfließen. Die UEFA hat die Beratung Nielsen damit beauftragt. Das Bundesinnenministerium setzt für eine unabhängige Untersuchung auf die Uni Bielefeld, die allerdings auch auf Daten der UEFA zurückgreifen muss.
In der Politik liegt der Fokus darauf, dass sich Sportgroßveranstaltungen in Bezug auf Nachhaltigkeit laufend verbessern. Dazu dient etwa das Projekt „Nachhaltige Sport[groß]veranstaltungen“, das der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB), die Deutsche Sporthochschule in Köln und das Öko-Institut durchführen. „Es braucht eine ständige Ambitionssteigerung“, so Kracht vom Bundesumweltministerium. Es dürfe nicht sein, dass man Nachhaltigkeitsthemen bei jeder Großveranstaltung neu verhandelt. Deshalb sollen in dem Projekt Mindeststandards entstehen. Zudem ist vorgesehen, mit praxisbezogenen Empfehlungen auch Veranstaltern kleinerer Sportevents eine nachhaltige Umsetzung zu ermöglichen.
Und, wird es nun die bisher nachhaltigste EM? „Die Chance besteht“, sagt Kracht. „Aber bei allen Fortschritten: auch die Ansprüche an Sportgroßveranstaltungen steigen.“