Kinderrechte in Lieferketten: Die wirksamsten Handlungsfelder
Bei Kinderarbeit ist die rechtliche Lage eigentlich klar: Sie ist in den meisten Ländern der Welt verboten. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) definiert sie als Tätigkeiten, die gefährlich sind, zu viele Stunden erfordern oder von zu jungen Kindern ausgeführt werden. Auch das deutsche Lieferkettengesetz (LkSG) bezieht sich auf Kinderarbeit. Die europäische Richtlinie (CSDDD) umfasst noch weitere Rechte von Kindern wie Gesundheit, Bildung, angemessene Lebensbedingungen, Schutz vor Ausbeutung, sexuellen Missbrauch, Entführung und Kinderhandel.
Doch Anspruch und Wirklichkeit klaffen auseinander: Weltweit arbeiten etwa 160 Millionen Kinder – jedes zehnte Kind. Laut ILO und UNICEF (Stand 2020) leisten fast die Hälfte von ihnen gefährliche Arbeit, die ihre Gesundheit, Sicherheit oder Entwicklung direkt bedroht.
Symptom Kinderarbeit – Ursache Armut
Weltweit hat Kinderarbeit zuletzt wieder zugenommen. Im Vergleich zur ILO-UNICEF-Erhebung von 2016 gab es 2020 etwa 8,4 Millionen mehr arbeitende Kinder. „Wahrscheinlich sind die Zahlen seither aufgrund der Coronapandemie weiter gestiegen“, sagt Anne Reiner von der Kinderrechtsorganisation Save the Children. Die Pandemie hat viele Familien zum ersten Mal in Armut gestürzt oder ihre ohnehin prekäre Lage verschlimmert. „Armut ist der Haupttreiber von Kinderarbeit“, so die Expertin für nachhaltige Lieferketten. Verdienen Eltern zu wenig, müssen Kinder mithelfen. Oder Eltern müssen länger arbeiten und können sich nicht ausreichend um ihre Kinder kümmern. Eine weitere mögliche Folge von Armut ist Kinderhandel. Landlose und migrantische Familien sind insgesamt höheren Risiken ausgesetzt.
Viele Unternehmen im globalen Norden haben Menschenrechtspolicies, die sich auf ILO-Normen stützen. Zertifizierung und Auditierung zeigen Wirkung: In den Tier-1-Zulieferstufen, etwa bei großen Fertigungsstätten, ist Kinderarbeit oft zurückgegangen. Viele große Plantagen haben geregelte Arbeitsverträge, auch wenn Saisonarbeit verbreitet ist. „Aber in Agrarrohstofflieferketten ist Kinderarbeit ein großes Thema, genauso wie beim Rohstoffabbau, vor allem in Minen“, so Christiane Hellar von der Hamburger Stiftung für Wirtschaftsethik.
Was können Unternehmen also tun, um Menschenrechtsverletzungen gegen Kinder zu vermeiden oder zu minimieren? Grundsatzerklärungen, Fragebögen für Lieferanten oder gelegentliche Audits – all das änderte bisher wenig an der Situation der Kinder. Es gibt jedoch viele weitere wirksame Handlungsfelder.
1. Geschäftspraktiken, die Armut verhindern
Unternehmen müssen die Risiken in ihren Lieferketten kennen und sollten entsprechend handeln. Das bedeutet: Investitionen dorthin lenken, wo sie den größten Einfluss haben und Kinderrechtsrisiken am höchsten sind.
Derisking – Risikobasiertes Vorgehen
Verlässliche Länderindizes zum Risiko von Kinderarbeit gibt es kaum. Unternehmen können jedoch Indikatoren wie die Armuts- oder Einschulungsrate in weiterführende Schulen nutzen. „Wenn Jugendliche nicht zur weiterführenden Schule gehen, müssen sie nach der Grundschule wahrscheinlich anfangen zu arbeiten“, weiß Anne Reiner von Save the Children. Das Risiko für Kinderarbeit steigt, je weiter vorgelagert die Lieferstufe und je kleiner der Betrieb ist. Besonders gefährdet sind vulnerable Gruppen wie Migranten oder Kinder ohne familiäre Begleitung. Diese Personen können leicht ausgebeutet werden, weil Unternehmen in diesen Fällen kaum direkt Einfluss nehmen können.
Last option – Lieferkettenverlagerung
In einigen Regionen ist das Risiko von Menschenrechtsverletzungen, auch gegen Kinder, besonders hoch. Xinjiang in China etwa ist bekannt für Zwangsarbeit, insbesondere von Uiguren. Die Abhängigkeiten von China sind aber vor allem im Rohstoffbereich groß – auch in Afrika sind viele Minen in chinesischer Hand. Aus Mangel an Alternativen kommt eine Verlagerung der Lieferketten oft nicht in Frage – eine Argumentation, die auch das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) bisher noch akzeptiert.
Preisgestaltung und existenzsichernde Löhne
„Da Kinderarbeit vor allem durch Armut entsteht, ist Preisgestaltung der größte Hebel. Es braucht faire Preise für Rohstoffe und faire Löhne“, sagt Christiane Hellar. Doch in vielen Branchen, etwa der Textilindustrie in Bangladesch, bleiben Preise oft jahrelang gleich. Das setzt Lieferanten unter Druck – und erhöht das Risiko für Kinderarbeit. Selbst Preiserhöhungen, wie beim Kakao, kommen oft nicht bei den Bauern an. Wenn Unternehmen keine direkten Lieferbeziehungen haben, lässt sich schwer sicherzustellen, dass die Bauern oder Arbeiter ihre Zahlungen auch erhalten.
Am effektivsten sind Ansätze, die Zwischenhändler umgehen und Bauern direkt unterstützen, etwa durch Prämien für ein existenzsicherndes Einkommen. Unternehmen wie Fairtrade, Tony’s Chocolonely und Ben & Jerry’s zahlen höhere Preise für Kakao. Es gibt auch Unternehmensprogramme, die Prämien für gute Praktiken wie Baumschnitt oder den Schulbesuch der Kinder vorsehen. Trotz Fortschritten ist ein Living Income damit nicht für alle garantiert, wie eine Studie des KIT Royal Tropical Institute zeigt. Höhere Preise, die etwa über gemeinsame Gestaltung mit dem Lieferanten zu höherem Einkommen führen, sind der sicherste Weg, die Lücke zu schließen.
Langfristige Lieferantenbeziehungen
Stabile Beziehungen zu Zulieferern fördern den Schutz von Kinderrechten. Dann lohnen sich für die Lieferanten Investitionen für deren Einhaltung – zum Beispiel, indem sie Kinderbetreuung anbieten. Ohne diese Sicherheit zögern Zulieferer eher, solche Maßnahmen umzusetzen.
Realistische Umschlagszeiten von Aufträgen
Kurze Lieferfristen setzen Zulieferer unter Druck. Besonders problematisch sind ständige Änderungen der Bestellungen, wie sie während der Coronapandemie vermehrt vorkamen. In der Textilbranche führen häufige Änderungen von Schnittmustern zu höherem Verschnitt – ein Problem für Näher:innen, die oft nach Stückzahl bezahlt werden. Verlässliche Lieferzeitpläne sind daher ein wichtiges Mittel, um Kinderarbeit zu vermeiden.
Frühere Zahlungsziele
Viele Kleinbauern erzielen über Direktabnehmer höhere Preise, doch Zahlungsziele spielen ebenfalls eine entscheidende Rolle. Verzögerte Zahlungen führen oft zu Cashflow-Problemen, sodass Familien auf Zwischenhändler ausweichen müssen, die weniger zahlen. Unternehmen können das Risiko für Kinder verringern, wenn Geld schneller fließt.
Kreditvergabe-Praxis ändern
Ein Save-the-Children-Assessment in der Côte d’Ivoire zeigte, dass viele Familien zu Jahresbeginn Kredite für Saatgut und Pestizide aufnehmen. Schlechte Ernten erschweren jedoch die Rückzahlung. Um dieses Risiko für Kinder zu minimieren, sollten Unternehmen längere Fristen gewähren oder Mikroversicherungen aufbauen, die in Notlagen einspringen.
2. Mehr Transparenz in den Lieferketten
Transparenz in Lieferketten ist ein Zeichen des Vertrauens: Akteure können offen über Probleme sprechen und sie gemeinsam verbessern. Wenn Missstände auftreten, sollten Zulieferer nicht fürchten müssen, dass diese zum Abbruch der Handelsbeziehung führen. Deshalb können Unternehmen mit langfristigen Beziehungen Vertrauen schaffen. Eine hohe Sensibilität für Kinderarbeit und -handel macht es zudem schwerer, Kinderrechte verletzende Praktiken zu verschleiern. Netzwerke wie die Living Income Community of Practice spielen dabei eine wichtige Rolle. Sie agieren branchenübergreifend und überprüfen, wie effektiv Einkommensstrategien in der Praxis sind.
„Für Unternehmen kommt es darauf an, mangelnde Transparenz richtig zu deuten“, so Anne Reiner weiter. China habe nach einem Rekordwert im Juni für etwa ein halbes Jahr keine Zahlen mehr zur Jugendarbeitslosigkeit herausgegeben, bevor die Berechnungsmethode abgeändert wurde. Solche Informationslücken bergen Risiken: Unternehmen dürfen das Thema Kinderarbeit nicht ignorieren, nur weil sie in ihren Prozessen weniger sichtbar ist als andere Gefährdungen.
3. Problembewusste Unternehmenskommunikation
Viele Unternehmen sichern sich mit Menschenrechtsdeklarationen und Bescheinigungen ab. Doch solche Maßnahmen drohen, das Thema Menschenrechte auf Krisenkommunikation zu reduzieren: Wenn ein Vorfall publik wird, geht es oft nur noch darum, den Ruf des Unternehmens zu schützen. „Das hilft weder den Betroffenen vor Ort noch den Unternehmen selbst“, warnt Anne Reiner.
Wer nur PR-Teams mit Menschenrechtsthemen betraut, verschenkt Chancen auf echte Verbesserungen. Ihre Empfehlung lautet: Von Anfang an ehrlich kommunizieren, an welchen Problemen man arbeitet. Das schafft Glaubwürdigkeit und mehr Spielraum für sinnvolle Maßnahmen im Ernstfall.
4. Sichere Arbeit für Eltern und Jugendliche schaffen
Damit Eltern ihre Kinder nicht unbeaufsichtigt lassen oder sie gar während der Arbeit zu ihrer Sicherheit in Wohnheimen einschließen, sind Kinderbetreuungsmöglichkeiten oder After-School-Center am Arbeitsplatz die beste Lösung. Auch sichere Arbeitsplätze für Jugendliche schützen vor gefährlicher Kinderarbeit. In vielen Ländern liegt die Altersgrenze für das Ende der Schulpflicht und damit die Erlaubnis für Erwerbsfähigkeit zwischen 14 und 16 Jahren.
Doch auch Jugendliche dürfen keine gefährliche Arbeit verrichten, etwa mit gefährlichen Maschinen oder in Nachtschichten. Manche Zulieferer ziehen es vor, nur über 18-Jährige einzustellen, um rechtliche Probleme zu vermeiden. Dies führt jedoch dazu, dass sich Jugendliche oft Arbeit unter schlechteren Bedingungen suchen müssen. Sinnvoller ist es, sichere, erlaubte Arbeitsplätze für Jugendliche anzubieten, um diese Risiken zu minimieren.
5. Verantwortung und Abhilfe von Kinderarbeit
Abhilfe von Kinderarbeit ist im LkSG nicht umfassend vorgesehen, in der CSDDD jedoch sehr wohl. Unternehmen stehen vor der Frage: Was tun, wenn sie von Rechtsverletzungen gegen Kinder erfahren, sei es durch Zertifizierungen, Qualitätskontrollen oder Audits? Sie brauchen einen Abhilfemechanismus, der über bloße Beschwerdeverfahren hinausgeht. Kinderrechtsorganisationen wie Save the Children können hier unterstützen und im Verdachtsfall direkt kontaktiert werden. Insbesondere in der Kakaoindustrie sind Child Labour Monitoring and Remediation Systems (CLMRS) verbreitet, bei denen geschulte Gemeindemitglieder vor Ort, sogenannten Community Facilitators, involviert sind.
Meist ist eine individuelle Lösung gefragt – etwa ungefährliche Arbeit zu schaffen, Zugang zur Schule zu ermöglichen oder Familien zusammenzuführen. Anne Reiner von Save the Children fordert dabei auch finanzielle Verantwortung von Unternehmen: Übernehmen Sie die Kosten, nehmen Sie den Druck von Zulieferern, anderswo zu sparen – etwa bei deren Löhnen. „Präventive Maßnahmen sind wichtig. Aber bis sie wirken, arbeiten Kinder weiter. Mit dem richtigen Abhilfemechanismus ist es für diese Kinder noch nicht zu spät.“
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