Georgsmarienhütte: Grüner Pionier mit Strompreissorgen


Georgsmarienhütte: Grüner Pionier mit Strompreissorgen

Alle sind sich einig: Grüner Stahl ist eine super Sache und wird künftig eine Schlüsselrolle bei der Dekarbonisierung spielen. Vorreitern wie der Georgsmarienhütte machen derweil die hohen Energiekosten zu schaffen.

Es ist eine Kreislaufwirtschaft wie aus dem Bilderbuch: Regelmäßig fahren mit Schrott beladene Züge vom Osnabrücker Presswerk von Volkswagen über die GMH Recycling im Osnabrücker Hafen zum rund zehn Kilometer entfernten Elektrostahlwerk der Georgsmarienhütte GmbH. Dort werden die Metallreste eingeschmolzen und erneut zu Stahlprodukten recycelt, um, zurück bei VW, in der Getriebefertigung eingesetzt zu werden. Der recycelte Stahl wird qualitativ nicht schlechter, dafür aber seine Klimabilanz mit jeder Verwertungsrunde immer besser. Und nicht nur VW liefert Schrott: die GMH-Gruppe, zu der die Georgsmarienhütte GmbH zählt, betreibt eigene Schrottplätze, pardon: Recyclingunternehmen, um den Nachschub sicherzustellen.

Stahl aus Schrott, erzeugt im Elektrolichtbogenofen: Dank dieses Verfahrens zählt die Georgsmarienhütte seit dem Jahr 2014 ganz offiziell und als erstes Stahlwerk überhaupt zum Kreis der „Klimaschutz-Unternehmen“. Und das, obwohl „Klimaschutz“ und „Stahl“ normalerweise so gar nicht zusammenpassen, wird doch die Stahlindustrie weltweit für etwa 7 bis 9 Prozent der globalen CO₂-Emissionen verantwortlich gemacht. Ursache dafür ist der Einsatz von Koks und Kohle in den konventionellen Hochöfen. Die Hoffnungen der Industrie liegen deshalb auf „grünem“ Stahl.

Ohne die Stahlbranche sähe Deutschland heute anders aus

Stahl, das muss hier eingangs noch gesagt werden, ist ein besonderes Material: Jeder Mensch in Deutschland „verbraucht“ jährlich 400 Kilo Stahl. Stahl ist im Auto, Stahl ist im Fahrrad, in Injektionsnadeln, Waschmaschinen, Scheren, Kugelschreibern, Türgriffen – suchen Sie sich was aus: Wir sind von Stahl umgeben.

Zudem ist Stahl Nukleus für etliche Branchen, vom Maschinenbau bis zur chemischen Industrie. Ohne die Stahlbranche sähe Deutschland heute anders aus, sie war das Herzstück der Industrialisierung, der Treiber für Wirtschaftswachstum und Urbanisierung. Das Stahlwerk Georgsmarienhütte hat seine Ursprünge im Jahr 1856, die gleichnamige Stadt ist nach dem Werk benannt – nicht umgekehrt.

Heute steckt die Stahlbranche in der Transformation. Sie zählt, wie gesagt, wegen ihrer enormen CO₂-Emissionen zu den allergrößten Klimaschädlingen und muss dekarbonisieren. Sie hat mit globaler Konkurrenz und technologischen Veränderungen zu tun. Und sie produziert hierzulande mit Strompreisen, die ihre Wettbewerbsfähigkeit gefährden. Doch dazu später.

Für uns als deutscher Stahlhersteller gehört es zur Zukunftsvorsorge, dass wir absolut grün sein müssen und auch wollen.


Marc Oliver Arnold

„We are Green Steel“, das ist die Mission der 1.345 Mitarbeitenden des Werks in Georgsmarienhütte. „Für uns als deutscher Stahlhersteller gehört es zur Zukunftsvorsorge, dass wir absolut grün sein müssen und auch wollen. Keine Generation will die Welt kaputter hinterlassen, als sie sie vorgefunden hat. Wir wollen als grünstes Stahlwerk Europas unseren Beitrag leisten und damit auch unseren Kunden gute Argumente an die Hand geben, weiterhin bei uns zu kaufen“, sagt Marc Oliver Arnold, technischer Geschäftsführer und Werksleiter der Georgsmarienhütte.

Arnold_Marc-Oliver

Schon seit 1994 wird hier auf die Stahlproduktion im Elektrolichtbogenofen gesetzt. Der emittiert im Vergleich zu traditionellen Hochöfen 1,3 Kilo weniger CO₂ pro Kilo Rohstahl. Mithilfe eines selbst entwickelten – und TÜV-zertifizierten – Tools weist das Unternehmen die CO₂-Bilanz jedes einzelnen Produkts exakt aus. Außerdem spart die Verwendung von Metallschrott Ressourcen.

Auch die No-Waste-Strategie des Unternehmens gilt als vorbildlich: Bei der Produktion anfallende Nebenprodukte wie etwa Stahlwerkschlacken landen unter anderem im Straßen-, Wege- und Gleisbau, Filterstäube werden in die Produktion anderer Industriezweige weitergegeben, das Brauchwasser dient zur Schlackenkühlung. Die Abwärme deckt nicht nur den Großteil des eigenen Bedarfs, sondern beheizt in Georgsmarienhütte unter anderem auch das Panoramabad samt Sauna, die Polizei, Schulen, weitere öffentlichen Gebäude und rund 400 Haushalte.

2002 führte die Georgsmarienhütte ihr Umweltmanagementsystem ein, 2010 folgte das Energiemanagementsystem, 2018 etablierte sie eine Stabsstelle fürs Nachhaltigkeitsmanagement. Kurzum: Das Stahlwerk ist in einer an und für sich klimaschädlichen Branche ein Pionier in puncto Nachhaltigkeit. Die Kundschaft – zu 80 Prozent Automobilzulieferer – fordert Nachhaltigkeit ein: „Die großen Automobilhersteller haben ihren Kunden auf lange Sicht klimaneutrale Autos versprochen und das schlägt sich in ihrer Lieferkette nieder. Sie wollen klimaneutralen Stahl“, sagt Andrea Bruns, die das Nachhaltigkeitsmanagement verantwortet.

Bruns_Andrea

Das Ziel: Klimaneutralität bis 2039

Bis 2039 will die Georgsmarienhütte nochmal eine Schippe drauflegen: dann will sie klimaneutral arbeiten. Dafür setzt das Unternehmen vor allem auf zwei Säulen – und wir sind bei den Schwierigkeiten der Transformation angekommen:

1. Grüner Strom für Grünen Stahl:
Um klimaneutral produzieren zu können, ist Georgsmarienhütte auf erneuerbare Energie angewiesen. Und zwar in immenser Menge. Der Strom muss zudem immer dann zur Verfügung stehen, wenn er gebraucht wird. Und das zu einem vernünftigen Preis. Bei hohen Energiepreisen ist „grüner“ Stahl nicht konkurrenzfähig.

Das Stahlwerk verbraucht alljährlich so viel Strom wie die gesamte Stadt Osnabrück mit ihren rund 168.000 Einwohnern, das entspricht 0,1 Prozent des gesamtbundesrepublikanischen Stromverbrauchs. Geschäftsführer Arnold rechnet vor, dass sich für den Energiebedarf des Unternehmens 65 große Windkraftturbinen das ganze Jahr über 24 Stunden täglich drehen müssten. Nun würde das Unternehmen gern eigene Windkraftanlagen errichten. Dies ist zurzeit in Klärung mit den Behörden, da es sich vor Ort nicht um ein „Windvorranggebiet“ handelt. „Da greift eine komplizierte Regulatorik“, sagt Arnold.

2. Von Erdgas zu Grünem Wasserstoff:
Georgsmarienhütte will sukzessive Erdgas durch Wasserstoff ersetzen. Das ist kein Kinderspiel: Wasserstoff hat nur ein Drittel des Heizwertes von Erdgas. Außerdem ist der Einsatz von Wasserstoff rein technisch betrachtet eine knifflige Angelegenheit. Eine Wasserstoffflamme ist dreimal so lang wie eine Erdgasflamme, das erfordert andere Abläufe in Brennräumen. Und: Es fehlt die Infrastruktur. Noch gibt es weder Speicher noch Pipelines. All das erfordert erhebliche Investitionen entlang der gesamten Wertschöpfungskette und Höchstleistungen von den Ingenieursteams, die über Jahrzehnte optimierte Produktionsprozesse umstellen müssen.

„Wir wollen es gar nicht leicht, wir wollen es nur fair“

„Der Strom macht uns die größten Sorgen. Betrachtet man den Strommix in Deutschland, dann fahren viele Elektrofahrzeuge eigentlich mit Braunkohlestrom. Das ist eben bei uns auch noch so“, erklärt Marc Oliver Arnold. Solange erneuerbare Energie nicht in ausreichender Menge vorhanden ist, kann das Werk nicht klimaneutral arbeiten. Hinzu kommt der Preis. „Wenn die Politik ein Produkt künstlich verteuert, dann muss sie auch irgendwo wieder eine Tür öffnen, durch die der Hersteller gehen kann, wenn er sich wie gewünscht verhält. Wir haben die Situation, dass das Verbrennen von Koks im Hochofen CO₂ produziert und der Einsatz von Elektrizität zum Stahlschrottschmelzen eigentlich nicht. Trotzdem haben wir in den ersten sechs Monaten dieses Jahres erlebt, dass die Produktionsmenge der Hochöfen relativ konstant geblieben ist, während die der Elektro-Stahlwerke sank. Das liegt daran, dass die Elektrizität und die Netzentgelte so teuer sind“, so Marc Oliver Arnold.

Laut einem ZEIT-Interview mit der Unternehmenschefin Anne-Marie Großmann vom Mai dieses Jahres zahlt das Unternehmen heute „unterm Strich etwa doppelt so viel für Strom wie vor einem Jahr – da lagen die Preise auch schon deutlich höher als im OECD-Schnitt.“

All das geht unter anderem auf Kosten des Investitionsbudgets. Zuletzt investierte das Unternehmen in zwei elektrisch betriebene Einzelstabvergütungsanlagen, die einen Erdgasofen ersetzen. „Das machen wir elektrisch, damit wir eben nicht das CO₂ erzeugen. Und dann kommt die Politik und macht den Strom teurer“, sagt Arnold. Er ist mit dieser Klage nicht allein: Laut dem aktuellen Energiewende-Barometer der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) betrachten 30 Prozent der Industrieunternehmen die hohen Energiepreise als Hindernis bei den Transformationsbemühungen für mehr Klimaschutz. Immer mehr Industrieunternehmen stellen Investitionen zurück, viele beklagen, dass ihre Wettbewerbsfähigkeit zusehends schwindet. „Wir wollen es gar nicht leicht, wir wollen es nur fair“, sagt Arnold.

Dass die Nachfrage nach „grünem“ Stahl in Zukunft weiter steigen wird, steht für ihn außer Frage. „Zum Beispiel ein Auto wird in wenigen Jahren nur noch dann verkaufsfähig sein, wenn es nach heutigen Maßstäben grün ist. Und deswegen ist es – wenn heute nicht, dann morgen – eine Notwendigkeit, grünen Stahl zu kaufen. Das ist gut so und da sind wir dabei. Es muss jetzt nur ein Weg gefunden werden, wie das funktioniert. Die positive Botschaft ist: Wir wollen das hier alle, wir glauben daran und dafür arbeiten wir auch jeden Tag. Es soll jetzt gar nicht pathetisch klingen, sondern das ist einfach unser Antrieb: Wir wollen Stahl grün erzeugen.“

Die Georgsmarienhütte GmbH in Niedersachsen ist Vorreiter bei der nachhaltigen Stahlproduktion. Die GMH ist Teil der GMH Gruppe, eines der größten in Privatbesitz befindlichen metallverarbeitenden Unternehmen Europas. Zur Gruppe gehören 16 mittelständische Produktionsunternehmen der Stahl-, Schmiede- und Gussindustrie, die in mehr als 50 Ländern vertreten sind. Mit rund 6.000 Mitarbeitern erwirtschaftet die GMH Gruppe einen Jahresumsatz von rund zwei Milliarden Euro. Die von Georgsmarienhütte angewandte Methodik für die Berechnung des Product Carbon Footprint (PCF) wurde von TÜV SÜD validiert und wird für mehr als tausend Stahlvarianten angewendet.