Biodiversität im Blick: Chancen durch die Ökobilanz
Neben dem voranschreitenden Klimawandel ist der Verlust der Artenvielfalt eines der drängendsten gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit. Wirtschaftliche Tätigkeiten tragen im Wesentlichen dazu bei, dass auf globaler und lokaler Ebene Arten in einem Tempo aussterben, das Wissenschaftler:innen dazu veranlasst, von einem neuen Massenaussterben zu sprechen. Dies stellt eine existenzielle Krise für die betroffenen Arten und uns Menschen dar. Studien zeigen, dass sich der Verlust von Artenvielfalt hauptsächlich auf fünf Ursachen menschlichen Handelns zurückführen lässt:
- Die Einführung invasiver Arten,
- die Nutzung von Landflächen und der Meere,
- der Klimawandel,
- Verschmutzung durch Schadstoffe sowie
- die direkte und übermäßige Ausbeutung natürlicher Ressourcen.
Wie kann unternehmerisches Handeln dazu beitragen, diese existenzielle Krise zu bewältigen? Unternehmen sind in mehrerlei Hinsicht betroffen: zum einen tragen viele Unternehmen zur Zerstörung von Lebensräumen bei, zum anderen wird der Artenverlust zum unternehmerischen Risiko. Ein funktionierendes Ökosystem stellt Nährstoffe und Ressourcen bereit, reinigt Schadstoffe aus der Umwelt und bietet weitere nützliche „Nebeneffekte“, wie etwa Hochwasserschutz, Regulierung von Klima- und Wetterextremen usw. Diese Ökosystemdienstleistungen leisten einen existenziellen Beitrag zur unternehmerischen Wertschöpfung bei.
Neue Regulatorik sorgt für mehr Transparenz
In den vergangenen Jahren wurden einige wichtige Gesetze auf EU-Ebene verabschiedet, die zu mehr Transparenz und Rechenschaftspflicht in Bezug auf Nachhaltigkeit führen.
- Die Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen (CSRD) verpflichtet Unternehmen ab einer bestimmten Größe, verlässliche, relevante und vergleichbare Informationen über Umwelt, Soziales und Governance (ESG) zu berichten. Die Berichtspflichten umfassen das Unternehmen selbst und dessen Wertschöpfungskette. Ein zentraler Aspekt ist die sogenannte „doppelte Materialität“: Unternehmen müssen berichten, welche Auswirkungen ihre Aktivitäten haben und wie sich wiederum die Umweltveränderungen auf sie selbst auswirken. Um eine Standardisierung zu erleichtern, wurden Standards für die Nachhaltigkeitsberichterstattung (European Sustainability Reporting Standards - ESRS) eingeführt, die auch Bezug auf Biodiversität nimmt.
- Die Verordnung über nachhaltigkeitsbezogene Offenlegungspflichten im Finanzdienstleistungssektor (Sustainable Finance Disclosure Regulation - SFDR) ist ein wichtiger Schritt zu mehr Transparenz in Bezug auf ESG im Finanzsektor. Die Verordnung fordert, dass Anbieter von Finanzprodukten ihre Produkte gemäß ihrer Nachhaltigkeit klassifizieren - je nachhaltiger ein Produkt ist, desto umfangreicher sind die Berichtspflichten.
- Die EU Taxonomie-Verordnung enthält Kriterien zur Einstufung, ob eine wirtschaftliche Tätigkeit nachhaltig einzustufen ist oder nicht. Die Verordnung enthält ebenfalls den Schutz der Biodiversität als ein Umweltziel.
Die Bewertung der Auswirkungen unternehmerischer Aktivitäten auf die Umwelt steht im Mittelpunkt dieser Verordnungen. Übergeordnetes Ziel ist es, nachhaltigere Entscheidungen zu ermöglichen, die langfristig dazu führen, dass sich unsere Wirtschaft sozial und gerecht innerhalb der planetaren Grenzen bewegt.
Welche Rolle können detaillierte Umweltbewertungen spielen?
Eine wissenschaftliche Methode zur ganzheitlichen Betrachtung von Umweltauswirkungen von Produkten und Dienstleistungen eines Unternehmens ist die Lebenszyklusanalyse (Life cycle assessment, kurz LCA) - auch als Ökobilanz bekannt. Dabei werden nicht nur alle Prozesse und Dienstleistungen innerhalb eines Unternehmens betrachtet, sondern auch alle relevanten vor- und nachgelagerten Prozesse in der Wertschöpfungskette, die mit der Bereitstellung der untersuchten Produkte oder Dienstleistungen zu tun haben. Vorgelagerte Prozesse innerhalb der Lieferkette werden ebenso betrachtet wie nachgelagerte Prozesse, beispielsweise die Nutzung eines Produktes und dessen Entsorgung. Diese umfassende Betrachtung ermöglicht es, über die Unternehmensgrenzen hinweg zu erkennen, welche Prozesse, Dienstleistungen oder Zulieferer mit den größten Umweltauswirkungen verbunden sind.
Das Besondere: Neben oft bewerteten Größen, wie beispielsweise Treibhausgasemissionen, können eine Vielzahl weitere Umweltindikatoren wie Wasser- oder Landflächenverbrauch bewertet werden, darunter auch die Auswirkungen auf die Biodiversität. Hierbei geht es nicht nur um Aktivitäten eines Unternehmens mit Fokus auf Biodiversität. Die Methodik ermöglicht es zu erkennen, ob und in welchem Ausmaß sich irgendein Produkt oder irgendeine Dienstleistung auf Biodiversität auswirkt. Der Vorteil einer LCA ist es, neben den oftmals offensichtlichen Auswirkungen auf die Umwelt, weitere bisher unbekannte Hotspots zu identifizieren. Beispielsweise kann der Einsatz von Chemikalien oder die Verwendung bestimmter Materialien oder Agrarrohstoffe mit negativen Auswirkungen auf die biologische Vielfalt (oder in anderer Weise auf die Umwelt) verbunden sein. Nur eine gesamtheitliche Betrachtung ermöglicht es, diese Erkenntnisse zu erlangen und zu bewerten.
Die Methoden bieten nicht nur großen Bestandsunternehmen tiefere Einblicke in die Umweltauswirkungen ihres Handelns. Ebenso können auch Gründer:innen schon in der Startup-Phase erkennen, wie sie negative Umwelteinwirkungen minimieren und ihre positiven Einflüsse maximieren können. Oftmals geht es dabei nicht nur um das eigene Unternehmen und die vor- und nachgelagerten Prozesse, sondern auch um die systemische Wirkung einer Innovation. Skalieren Start-ups, bringen sie innovative Produkte und Dienstleistungen in den Markt und beeinflussen bestehende Prozesse und Produkte. Eine technologische Innovation kann Produkte ersetzen oder zu Veränderungen in bestehenden Materialflüsse in der Wirtschaft führen. Beispielsweise werden zunehmend innovative, biobasierte und zum Teil biologisch abbaubare Materialien für Verpackungen eingesetzt. Dies führt zu einer Verringerung der Nachfrage nach konventionellen Verpackungen und gleichzeitig auch zu einer Veränderung der Materialströme im Entsorgungssystem. Da solche Veränderungen oftmals in vor- oder nachgelagerten Prozessen stattfinden, sind solche Veränderungen oftmals erst durch genauere Betrachtung der systemischen Effekte erkennbar. LCAs ermöglichen es, diese systemischen Wirkungen zu erfassen und ihren Einfluss auf Biodiversität und weitere Umweltindikatoren, wie beispielsweise den Klimawandel, abzubilden. Somit können Gründer:innen schon in einer sehr frühen Phase ihr Geschäftsmodell und Produkt in Hinblick auf Umwelteinwirkungen optimieren. Neben der intrinsischen Motivation vieler Gründer:innen bieten die Ergebnisse einer LCA die Möglichkeit potenziellen Kund:innen und Investor:innen einen Einblick in die Umweltauswirkungen ihrer Produkte oder Dienstleistungen zu geben. Dies hilft diesen wiederum den gesetzlichen Anforderungen nachzukommen, aber auch ihre gesetzten Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. Ein frühzeitiges Befassen mit einer LCA und deren Ergebnissen kann ein entscheidender Vorteil in der frühen Phase eines Unternehmens sein.
Herausforderungen und Ausblick
Egal ob bestehendes Unternehmen oder Start-up, eine zentrale Herausforderung beim Erstellen einer Lebenszyklusanalyse besteht in der Erhebung der notwendigen Daten. Die neuen europäischen Gesetzesvorgaben erfordern, diese Datengrundlage zu schaffen und Strukturen in den Unternehmen zu schaffen, die diese auswerten. Dies wird der Berechnung von Lebenszyklusanalyse zugutekommen und diese erheblich erleichtern. Eine weitere Schwierigkeit besteht in der notwendigen Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Methoden zur Bewertung von Einflüssen auf Biodiversität.
Trotz dieser Herausforderungen schafft eine umfassende Nachhaltigkeitsbewertung mittels einer LCA nicht nur eine gute Grundlage zur Erfüllung regulatorischer Anforderungen. Sie ermöglicht es auch, die Rolle des eigenen Unternehmens beim Verlust biologischer Vielfalt sowie der Auswirkungen dieser Krise auf die eigenen Lieferketten und Produkte besser zu verstehen. Damit sind Unternehmen in der Lage, einen Beitrag zur Bewältigung der Ökosystemkrise zu leisten und ihre eigene Wertschöpfung auch in der Zukunft sicherzustellen.
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Am 31. Oktober 2024 spricht Dr. Benedikt Buchspies auf dem Impact Festival zum Thema „Lebenszyklusanalyse und Biodiversität“. Haufe Sustainability ist Medienpartner der Veranstaltung und wird darüber berichten.
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