Social Housing: Bezahlbares Wohnen neu definiert

Gibt es heute noch eine Entschuldigung für schlechte Qualität beim Bau von Sozialwohnungen? Muss zwingend in die Höhe gebaut werden, um den nötigen Wohnraum für alle zu schaffen? Es geht auch gut und anders, wie einige internationale Beispiele zeigen, schreibt unsere Autorin Oona Horx-Strathern.

Der Architekt Stefano Boeri vertritt die These, dass bezahlbarer Wohnraum nicht zwangsläufig bedrückend oder hässlich sein muss. Berühmt geworden durch das Luxusappartementprojekt Bosco Verticale in Mailand, wendet er nun die Idee der vertikalen Bewaldung im sozialen Wohnungsbau an.

Eindhoven: Vorzeigeprojekt meistert die Herausforderungen Klimawandel und Wohnraumangel

Das Projekt Trudo Vertical Forest im niederländischen Eindhoven richtet sich an die unteren Einkommensschichten, insbesondere an junge Menschen mit urbanem Lebensstil. In dem 19-stöckigen Gebäude mit 125 Wohneinheiten sollen Hunderte unterschiedliche Bäume und Pflanzen auf den Balkonen angepflanzt werden. Das Hochhaus von Eindhoven zeigt, dass es möglich ist, sowohl die großen Herausforderungen des Klimawandels als auch den Wohnraummangel in einem Projekt anzugehen.

"Urbane Bewaldung ist für die Verbesserung der Umwelt in allen Städten der Welt notwendig und bietet zudem die Chance zur Verbesserung der Lebensbedingungen von weniger begünstigten Stadtbewohnern." Architekt Stefano Boeri im Dezeen Magazine

Und auch die Projektleiterin Francesca Cesa Bianchi bestätigte: "Der Trudo Vertical Forest setzt neue Wohnmaßstäbe. Jedes Appartement wird eine Wohnfläche von weniger als 50 Quadratmetern haben, aber exklusiv mit einem Baum, 20 Sträuchern und mehr als vier Quadratmetern Terrasse ausgestattet sein".

Dank des Einsatzes von Fertigteilen, der Rationalisierung technischer Lösungen bei der Fassade und der konsequenten Optimierung von Ressourcen werde dies der erste Prototyp eines Vertical Forests im sozialen Wohnungsbau sein.

Anteil des sozialen Wohnungsbaus in Deutschland gering ganz anders in Österreich

Eines ist klar: Wir brauchen künftig in den Städten mehr attraktiven und bezahlbaren sozialen Wohnraum. Einheitliche Definitionen von sozialem Wohnraum existieren jedoch nicht. Hinzu kommen immense Unterschiede von Land zu Land, was man von einer Sozialwohnung erwartet und was sie kostet.

In den USA etwa dürfen die Ausgaben 30 Prozent des Haushaltseinkommens nicht überschreiten, wohingegen sich die Mietpreise für Sozialwohnungen in Deutschland nach der Quadratmeterzahl richten. In einigen Ländern wird den Bewohnern Kündigungsschutz garantiert (anders als bei privater Vermietung kann den Mietern nicht kurzfristig gekündigt werden), und Familien und Personen mit der größten Bedürftigkeit haben Vorrang.

Laut einem Bericht im Onlinejournal Critical Housing Analysis ist der Anteil des sozialen Wohnungsbaus in Deutschland (funktional definiert als Mietwohnungen, die derzeit über ein Sozialwohnungsprogramm mit Beihilfen, Höchstmieten und Belegungsvereinbarungen bezuschusst werden) mit nur 3,3 Prozent am gesamten deutschen Gebäudebestand und sechs Prozent am Vermietungsmarkt gering. Im Vergleich dazu befinden sich in Österreich 24 Prozent aller Wohnungen und 57 Prozent der Mieteinheiten in Trägerschaft der öffentlichen Hand oder von gemeinnützigen Wohnbauvereinigungen. Dieser hohe Anteil an Sozialwohnungen ist historisch bedingt – vor allem Wien blickt auf eine lange Tradition des kommunalen Wohnungsbaus zurück, alleine von 1925 bis 1934 entstanden zur Zeit des "Roten Wiens" mehr als 60.000 Gemeindewohnungen.

Seit 2006 stagniert allerdings auch in Österreich die "Produktion" im geförderten Wohnbau, während die frei finanzierten Neubauprojekte zunehmen. Im Jahr 2010 wurde sogar ein Rückgang um 25 Prozent bei den öffentlich bezuschussten Wohnungen verzeichnet. In Deutschland ist das Problem gravierender: Immer mehr Menschen, vorwiegend in den Städten, haben theoretisch ein Anrecht auf geförderten Wohnraum – praktisch sind jedoch diese günstigen Wohnungen nicht vorhanden.

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Gründe hierfür sind, dass seit den 1990er Jahren Städte und Bundesländer Teile des Bestands an Sozialwohnungen an private Investoren verkauft haben – in vielen Fällen aus Geldnot. Was damals verkauft wurde, muss nun wieder neu gebaut werden; für private Immobilienentwickler lohnt es sich nämlich kaum, Wohnungen als geförderten Wohnraum anzubieten – vor allem nicht bei den aktuell vorherrschenden Mietpreisen.

Es fehlen konkrete Schritte der Politik

Derzeit steckt der Bund 1,5 Milliarden Euro an Fördergeldern in den Neubau von Sozialwohnungen durch Länder und Kommunen. Bedingt durch die vergleichsweise hohen Zuwandererzahlen schwerpunktmäßig in den Ballungszentren in Deutschland und Österreich, ist es derzeit zu einer großen Wohnungsnachfrage gekommen, sodass der Bedarf an bezahlbarem Wohnraum in den kommenden Jahren nicht gedeckt werden kann.

Stefan Kofner, Professor für Wohnungs- und Immobilienwirtschaft an der Hochschule Zittau/Görlitz, fordert in seiner Analyse "Social Housing in Germany" konkrete Schritte der Politik: nämlich, dass "die Kosten für Bauland/Grundstücke zur Sicherung der Bezahlbarkeit von Sozialmieten […] direkt von den kommunalen Behörden festgesetzt werden müssten". Primär könnte dies über die bedingte Bereitstellung von Wohnbauland erfolgen.

"Benötigt wird eine zukunftsorientierte Bodenbestandspolitik, die planungsbezogene Wertsteigerungen vergesellschaftet und bezahlbares Bauland für zielgruppenorientierten Wohnungsbau bereitstellt." Stefan Kofner, Professor für Wohnungs- und Immobilienwirtschaft, Hochschule Zittau/Görlitz

Sozialer Wohnungsbau als architektonische Herausforderung

Die gute Nachricht ist, dass sich sozialer Wohnungsbau aus architektonischer Sicht zu einer großartigen, möglicherweise sogar prestigeträchtigen und gefragten gestalterischen Herausforderung gemausert hat. Das zeigt auch die diesjährige Ausstellung "Wohnen für Alle" im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt am Main.

Mehr als 100 Architekten aus ganz Europa präsentierten ihre Entwürfe und nahmen am Wettbewerb um den Architekturpreis für bezahlbares und gutes Leben teil. Die Bandbreite und Intensität der kreativen Lösungen lässt hoffen, dass sich künftig die Lebensbedingungen für zahlreiche Menschen eines Tages verbessern werden.

Kreative Lösungen aus den Niederlanden, Norwegen und der Schweiz

Terras op Zuid: Licht, Luft, Sonne, Amsterdam

Ein herausragendes Projekt ist Terras op Zuid der NL Architects in Amsterdam. 28 der insgesamt 50 Wohneinheiten sind erschwingliche Lofts. Die sonnigen Terrassen in Südlage sind mit vertikalen Gärten ausgestattet. Die terrassenförmig angeordneten Balkone bieten optimale Sonneneinstrahlung. Kein darüberliegender Betonboden wirft Schatten oder begrenzt den Blick in den Himmel. Hinzu kommen kleine, durchdachte Details wie die bündig mit der Terrasse in den Boden eingelassenen Pflanzgefäße oder "Blumentöpfe" sowie die Wahlmöglichkeit der Bewohner bei der Gestaltung der Begrünung.

Terras op Zuid in Amsterdam

Hunziker Areal: Mehr als wohnen

Co-Living ist ein wichtiger Trend – und längst nicht mehr nur ein Wohnmodell für Studierende. Auch Alters- und Berufstätigen-WGs sowie Mehrgenerationenhäuser werden immer populärer. Mit unterschiedlichen Wohnräumen vom Studio bis zur 7,5-Zimmer Wohnung, vom Wohnatelier bis zur 12,5-Zimmer-Gemeinschaftswohnung, mit zumietbaren Wohn- und Arbeitszimmern und einem Angebot an Gemeinschaftsräumen (Allmendräumen) ist das Hunziker Areal in Zürich zum Inbegriff für ein gelungenes Bauprojekt mit Mischnutzung geworden. Der Mix aus 450 Wohnungen, Geschäften, Restaurants und Arbeitsbereichen sowie Künstlerateliers steht unter dem Motto der Community "mehr als wohnen".

Moholt Timber Towers: Holztürme für mehr studentische Lebensqualität

Castings für ein WG-Zimmer, monatelange Wartelisten für einen Studentenwohnheimplatz – das ist inzwischen zur Normalität für jeden Studienanfänger geworden. Einer Analyse von Savills Research zufolge gab es im Jahr 2006 in den 30 größten Hochschulstädten Deutschlands noch ein Angebot von mehr als 1,7 Millionen Wohnungen mit erschwinglichen Mietpreisen für 1,1 Millionen Studierende. 2016 sank die Zahl der Wohnungen auf 1,1 Millionen, während die Zahl der Studierenden auf rund 1,5 Millionen stieg. Ein wegweisendes Projekt für ein Studentenwohnheim, das erschwinglichen Wohnraum mit Umweltaspekten und dem Community-Gedanken verknüpft, sind die Moholt Timber Towers in Trondheim (Norwegen) vom Osloer Büro MDH Arkitekter. Das Ziel des Projektes: Studierende sollen ihre freie Zeit nicht mit Nebenjobs durcharbeiten müssen, um ihre Miete bezahlen zu können, sondern sich auf ihr Studium konzentrieren können und gegebenenfalls früher ihren Abschluss erreichen.

Moholt Timber Towers Trondheim

Cluster-Living: alleine gemeinsam

Laut Schätzungen der Hans-Böckler-Stiftung fehlen in Deutschland in den Großstädten derzeit knapp zwei Millionen bezahlbare Wohnungen. Mehr als 310.000 davon entfallen allein auf Berlin, wo man mit Projekten wie Spreefeld kostengünstigen Wohnraum schaffen will. Die Bau- und Wohngenossenschaft Spreefeld gilt als Pionier für gelungenes Gemeinschaftswohnen und -arbeiten. Die 44 Häuser zeichnen sich durch eine gemischte Nutzung für Familien und Einzelpersonen aus. Der Erfolg des Systems liegt hierbei im sogenannten "Cluster-Living", bei dem man alleine innerhalb einer Gemeinschaft wohnt. In Österreich haben das Sonnenwendviertel in Wien und die Seestadt Aspern den sozialen Wohnungs- und Siedlungsbau deutlich befördert und das Image insbesondere im Bereich des kommunalen und öffentlichen Raums spürbar verbessert.

Modulares Bauen in den Innenstädten

Sofern es um die Bereitstellung bezahlbaren Sozialwohnraums in dem für Städte erforderlichen Maß geht, muss dies nach Auffassung von Andreas Martin-Löf schneller und unter Einsatz von modularer Bauweise erfolgen. Der schwedische Architekt plante früher ausschließlich Luxusprojekte, doch mit den steigenden Mietpreisen in seiner Heimatstadt Stockholm erkannte er die Notwendigkeit, kleine und bezahlbare Wohnungen zu errichten. Dafür hat er modulare 32-Quadratmeter-Appartements entwickelt, die in einem Werk außerhalb Stockholms gefertigt und bedarfs- sowie standortorientiert in verschiedenen Höhen zusammengebaut werden. Wenngleich dies unter die Rubrik der kosteneffizienten Bauweise fällt, hat er es dennoch geschafft, hochwertige Materialien mit einer ansprechenden Gestaltung zu verbinden.

High-Density, Low-Rise: Architektur für die Menschen

Mittlerweile müsste also klar sein, dass es für schlechte Qualität beim Bau von Sozialwohnungen keine Entschuldigung mehr gibt. Zudem ist auch niemand mehr davon überzeugt, dass in die Höhe zu bauen die einzige Lösung ist, den nötigen Wohnraum für alle zu schaffen.

"Alternative Formen der Stadtsanierung sind kein Geheimnis. Wer nach einem gelungenen Beispiel für ‚High-Density, Low-Rise‘ sucht, braucht nur ins Londoner King’s-Cross-Viertel zu gehen. Dort findet sich als Ergebnis intelligenter Stadtplanung ein Mix aus Alt und Neu, Arbeit und Freizeit, Natur und Gemeinschaft – und das alles trotz der fast höchsten Bevölkerungsdichte in der Hauptstadt." Guardian-Autor Simon Jenkins

Durch das Stadtsanierungsprojekt in öffentlich-privater Partnerschaft entstanden 2.000 neue Wohneinheiten, wovon knapp ein Drittel bezahlbarer Wohnraum ist. Über die Strategie schreibt Jenkins in seinem Artikel 'Skyscrapers wreck cities – yet still Britain builds them': "Wohntürme spielen keine Rolle." Hingegen stehen die Menschen im Mittelpunkt.


Der vollständige Artikel erschien in der Jubiläumsausgabe 70 Jahre DW Die Wohnungswirtschaft, 10/2018