"Dumm macht glücklich"
Haufe Online-Redaktion: Herr Spicer, Sie beschreiben das Phänomen der "funktionalen Dummheit". Auf Deutsch: Dummheit gehört zum Geschäft. Warum ist das so?
André Spicer: Nachdem wir über ein Jahrzehnt lang "smarte", also kluge und erfolgreiche Unternehmen untersucht hatten, stellten wir fest, dass sie häufig dumm handelten. Dafür gab es mehrere Gründe. Zunächst einmal waren sie eher auf den Schein der Dinge fixiert als auf die Wirklichkeit. Höhere Führungskräfte interessierten sich mehr dafür, wie etwas auf ihre Vorgesetzten oder Investoren wirkte, als darauf, wo tatsächlich das Problem lag. Dies führte zu vielen Fehlern.
Erfolgreiche Unternehmen handeln häufig dumm.
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Ein weiterer entscheidender Grund ist, dass sich Dummheit oft für die Menschen lohnt. Wenn ein Geschäftsmann all ihre Intelligenz nutzt, führt das oft dazu, dass sie schwierige Fragen stellen. Das kann den Leuten auf die Nerven gehen, und außerdem kostet es Zeit. Durch Dummheit verhindern sie das – sie machen die Leute glücklich und vereinfachen Prozesse. Häufig werden sie dafür noch belohnt.
Haufe Online-Redaktion: Werden Unternehmen wenigstens aus Schaden klug?
Spicer: Unternehmen können aus ihren Fehlern lernen. Das einzige Problem ist, dass sie häufig die Lehren vergessen. Große Unternehmen können große Räume sein, das heißt, dass viel Platz vorhanden ist, um Fehler zu verbergen. Sie haben außerdem ein sehr kurzes Gedächtnis – kapitale Fehler, die für einen Moment alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sind nach ein paar Monaten vergessen. Und die Folge ist, dass die Fehler einfach wieder passieren.
Kapitale Fehler sind nach ein paar Monaten vergessen, und die Folge ist, dass die Fehler einfach wieder passieren.
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Haufe Online-Redaktion: Was waren oder sind die schlimmsten Auswüchse von funktionaler Dummheit?
Spicer: Mir fallen so viele Beispiele ein: die schwedische Armee, die vor einigen Jahren eine Marketingkampagne statt Militärübungen beschloss; große Banken, die komplexe Finanzprodukte wie bestimmte Kreditderivate entwickelten und aggressiv vermarkteten, was letztlich eine wichtige Rolle in der globalen Finanzkrise spielte – inzwischen haben sie zugegeben, dass niemand Ahnung davon hatte. Nokia, ein Unternehmen mit einer positiven Kultur, das seine Mitarbeiter anhielt, nur gute Nachrichten zu verbreiten. Das heißt, schlechte Nachrichten, etwa Probleme, wurden nicht nach oben kommuniziert. Die Folge: Als Nokia versuchte Smartphones zu entwickeln, um mit Apple und Samsung mitzuhalten, wurden dabei einige Fehler gemacht – die aber nicht nach oben, zum Management, drangen. Möglicherweise führte das dazu, dass das Unternehmen bei der Entwicklung von Smartphones ein Jahr hinter seinen Wettbewerbern zurückhinkte.
Haufe Online-Redaktion: Nehmen wir mal ein aktuelles Beispiel: VW und der "Dieselgate"-Skandal. Ist das auch ein Beispiel für "The Stupidity Paradox"?
Spicer: Der Autobauer hat in der Vergangenheit tatsächlich bei Abgastests geschummelt und dafür von den US-Behörden eine Geldstrafe aufgebrummt bekommen. VW hat gesagt, sie würden es niemals wieder tun. Dann haben sie vergessen, was sie daraus gelernt haben, und schließlich haben sie es wieder getan – und das kostet das Unternehmen Milliarden.
Haufe Online-Redaktion: Wie bringen Führungskräfte die Mitarbeiter dazu, ihren Verstand einzusetzen?
Spicer: Sie müssen ihnen Freiraum geben, kritisch zu sein oder Fragen zu stellen. Eine Möglichkeit ist, sogenannte Advocati Diaboli zu nutzen. Ihre Aufgabe ist es, auf Kritik oder Probleme konstruktiv hinzuweisen. Das macht die Dinge meistens besser, weil die Leute die Probleme sehen oder alle Optionen wahrnehmen.
Führungskräfte müssen den Mitarbeitern Freiraum geben, kritisch zu sein oder Fragen zu stellen.
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Eine andere Idee ist, "Pre-Mortems" zu verwenden, also Misserfolgsszenarien. Damit meine ich, dass Leute, die ein Projekt auf den Weg bringen, sich vorstellen, was alles in der Zukunft furchtbar schiefgehen kann. Sie werden sich fragen, warum dies geschehen könnte, und dann die Gründe für das Scheitern auflisten. Dies bewahrt Menschen davor, unnötig optimistisch zu sein.
Haufe Online-Redaktion: In der digitalisierten Arbeitswelt haben wir es verstärkt mit virtuellen Teams und Führung auf Distanz zu tun; die Arbeitsautonomie und die Verantwortung des Einzelnen wachsen rasant. Fluch oder Segen?
Spicer: Virtuelle Teams können bedeuten, dass Leute sich mehr für Prestige und das äußere Erscheinungsbild als für die Wirklichkeit interessieren. Wenn Sie die ganze Zeit um jemanden herum sind, haben Sie viele Gelegenheiten, informell Probleme zu besprechen. Wenn Sie hingegen auf Distanz zusammenarbeiten, können Ihre Mitarbeiter mehr Zeit darauf verwenden so zu tun, als würden sie arbeiten, als tatsächlich zu arbeiten.
Haufe Online-Redaktion: Maschinen und Roboter übernehmen immer mehr komplexe Aufgaben, teilweise sogar schon strategische Entscheidungen. Stirbt damit die Dummheit aus?
Spicer: Statt auf künstliche Intelligenz könnten wir eher auf eine Welt der künstlichen Dummheit zusteuern. Entscheidungen mithilfe von Algorithmen zu treffen, kann dazu beitragen, menschliche Vorurteile zu umgehen – allerdings führt das oft zu verrückten Ergebnissen.
Statt auf künstliche Intelligenz könnten wir eher auf eine Welt der künstlichen Dummheit zusteuern.
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Ein Beispiel war der Blitz-Crash an der Wall Street vor einigen Jahren: Damals führte der Fehler in einem Handelsalgorithmus dazu, dass der Markt innerhalb weniger Sekunden um Milliarden abschmierte. Solche Dinge können auch in vielen anderen Zusammenhängen passieren.
Das Interview führte Christoph Stehr.
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