Recruiting braucht Daten, Ethik und menschliche Expertise
Haufe Online-Redaktion: In Ihren Publikationen kritisieren Sie die Personalarbeit: Die meisten Personalerinnen und Personaler würden Mitarbeitende auswählen, indem sie auf ihre Intuition vertrauen und keine wissenschaftlich erprobten Instrumente anwenden. Wie ist der aktuelle Stand der Dinge? Hat sich die Lage verbessert?
Tomas Chamorro-Premuzic: Ja, ich würde schon sagen, dass es eine Verbesserung gab. Aber wir befinden uns noch immer in einer Phase, die vergleichbar ist mit der Zeit, als die Einwahl ins Internet Geräusche machte. Erinnern Sie sich an die Töne, die damals ein Modem von sich gab, wenn eine Verbindung aufgebaut wurde? Verglichen mit den heutigen Wifi-Möglichkeiten erscheint uns diese Zeit sehr rückständig. Aber verglichen mit den Zeiten davor war diese Dial-Up-Phase ein großer Fortschritt. In den meisten großen Unternehmen haben die HR-Abteilungen Zugang zu verschiedenen Tools und bauen ihre analytischen Fähigkeiten aus. Aber wenn sie gefragt werden, warum sie jemanden eingestellt haben, sagen sie: "Ich weiß nicht, ich mag den einfach." Wer dafür sorgen will, dass seine Belegschaft diverser wird, muss akzeptieren, dass seine Instinkte nicht zum gewünschten Ziel führen. Es gibt sicherlich Menschen, die eine gute Intuition haben, weil sie den Job 20 Jahre oder länger ausüben und viel Erfahrung gesammelt haben. Aber alle anderen, die auf ihre Intuition vertrauen, haben eine Fifty-Fifty-Chance, die richtige Entscheidung zu treffen.
Intuition führt bei Personalentscheidungen nicht zum gewünschten Ziel. Es braucht menschliche Expertise und die richtigen Tools." – Professor Tomas Chamorro-Premuzic
Haufe Online-Redaktion: Wie kann eine HR-Abteilung garantieren, dass die Key-Positionen im Unternehmen mit den richtigen Personen besetzt werden – und nicht mit "inkompetenten Männern"?
Chamorro-Premuzic: Dafür benötigt sie eine Kombination aus menschlicher Expertise, die auf ethischen Grundsätzen basiert und sich um eine vorurteilsfreie Auswahl bemüht, und Zugang zu den richtigen Tools, die datenbasierte Vorhersagen ermöglichen. Wichtig ist eine Unternehmenskultur, die es den beteiligten Personen ermöglicht, auszuprobieren, was funktioniert und was nicht. Niemand kann perfekt sein. Deshalb muss man bessere Wege finden, Fehler zu machen. Das dauert. Viele Unternehmen haben sehr gute Recruitingprozesse, aber dazu kam es nicht über Nacht. Sie haben ihre Skills, Tools und Abläufe im Laufe der Zeit perfektioniert. Sie mussten aufgeschlossen gegenüber neuen Entwicklungen sein und austesten, was funktioniert und was wirklichen Mehrwert liefert. Leider tendieren HR-Bereiche oft dazu, sich auf neue glänzende Lösungen zu stürzen, die zwar gut aussehen, aber keinen Mehrwert liefern.
Haufe Online-Redaktion: Heißt das, dass auf menschliche Expertise auch in Zukunft nicht verzichtet werden kann?
Chamorro-Premuzic: Zwei Geschichten dazu, die deutlich machen sollen, weshalb wir Intuition eindämmen, aber gleichzeitig nicht völlig auf die menschliche Expertise verzichten sollten: Als ich in Großbritannien studierte, hatte ich einen deutschen IT-Experten als Mitbewohner. Er stoppte mitten im Abendessen und sagte "Ich habe vergessen zu wählen", ging an den Computer und beantwortete 50 Fragen zu Themen wie Wirtschaft, Politik, Steuern. Dann wurde ihm mitgeteilt: "Du musst diese Partei wählen". Ich mit meinen argentinischen Wurzeln konnte es nicht verstehen, wie man jemanden wählen kann, ohne eine Debatte gesehen zu haben, ohne zu wissen, ob die Person charismatisch ist und eine gute Figur macht. Das ist eine sehr rationale Art zu wählen. Andere Freunde aus Deutschland haben mir ihre Lebensläufe zur Ansicht zugesandt. Diese waren auf der ersten Seite mit großen Fotos versehen – aus meiner Sicht ein absolutes No-Go. Aber meine Freunde sagten, dass sie nur mit Foto ein professionelles Erscheinungsbild transportieren können. Ich halte das für sehr gefährlich, denn wenn Arbeitgeber das Foto anschauen, sehen sie all die Dinge, die sie für eine objektive Auswahl ignorieren sollten.
Vielen KI-Anwendungen fehlt die Treffsicherheit
Haufe Online-Redaktion: Sie sagten, dass Personalerinnen und Personaler sich gern auf glänzende neue Produkte stürzen. Es gibt viele KI-Anwendungen, die nicht auf wissenschaftlichen Standards basieren, zum Beispiel solche, die Persönlichkeitsmerkmale auf Basis der Körpersprache ermitteln wollen. Wie schätzen Sie den Markt an KI-Anwendungen ein?
Chamorro-Premuzic: Ich denke, da besteht ein großes Potenzial. KI-Anwendungen konnten bislang nur mit ihrer Zeit- und Kostenersparnis beeindrucken, nicht so sehr mit ihrer Treffsicherheit. Würde ein Algorithmus die Körpersprache in unserem Interview auswerten, wäre er wahrscheinlich nicht aussagekräftiger als ein zufälliger Beobachter. Aber wenn er das in einem Zeitraum von zehn Jahren bei einer Million Menschen macht, wird er nicht nur sehr viel Zeit und Geld einsparen, sondern auch stark an Aussagekraft gewinnen. Darüber hinaus kann KI – im Gegensatz zu Menschen – dazu angeleitet werden, bestimmte Dinge zu verlernen. Und bei einer KI können die Wirksamkeit und die Fehlerrate berechnet werden – nicht bei Menschen. KI ist etwas, das mit Daten passiert, das aus Daten Erkenntnisse gewinnt und die Algorithmen lernen, sich selbst zu verbessern.
Selbst mit den besten Daten und der besten KI gab es noch keine Fälle, die uns etwas über eine Person verraten haben, was wir nicht in sechs Stunden mit Assessments und Interviews auch herausgefunden hätten." – Professor Tomas Chamorro-Premuzic
Haufe Online-Redaktion: Also werden sich KI-Anwendungen zunehmend etablieren, wenn sie mehr und bessere Daten zur Verfügung haben und damit auch ihre Treffsicherheit erhöhen?
Chamorro-Premuzic: Die Frage ist: Wie weit können wir gehen? Selbst mit den besten Daten und der besten KI gab es noch keine Fälle, die uns etwas über eine Person verraten haben, was wir nicht in sechs Stunden mit Assessments und Interviews auch herausgefunden hätten. Da besteht ein Unterschied zu selbstfahrenden Autos, die besser fahren als die meisten menschlichen Fahrer. Aber ähnlich wie bei den selbstfahrenden Autos gilt im Recruitment: Macht der Algorithmus einen Fehler, wird man die KI nie wieder einsetzen. Gleichzeitig sind alle damit einverstanden, dass Millionen von Menschen Vorurteile haben und Fehler machen. Früher sind Fehler passiert, weil der Algorithmus auf Vergangenheitsdaten basierte, die besagten, dass die beste Person für die Stelle ein männlicher Weißer ist. Einfach aus dem Grund, weil bislang nur männliche Weiße diese Stelle ausgeübt haben. Aber die Algorithmen sind trainierbar und können zukünftige Kriterien berücksichtigen, die für das Unternehmen wichtig sind.
Aus Vergangenheitsdaten Schlüsse für die Zukunft ziehen
Haufe Online-Redaktion: Die meisten KI-gestützten Auswahltools basieren auf Vergangenheitsdaten und versuchen daraus Schlüsse auf das künftige Potenzial von Personen zu ziehen. Wie können HR-Bereiche zu zukunftsgerichteten Daten kommen?
Chamorro-Premuzic: Niemand hat Daten der Zukunft. Die einzigen Daten, mit denen wir arbeiten können, sind Vergangenheitsdaten. Trotzdem funktioniert es, denn wir Menschen sind vorhersehbar. Einerseits sind wir sehr komplex, aber andererseits sind wir Gewohnheitstiere. Wir beide wissen: Wenn wir uns zu einem Kaffee verabreden, werden Sie als Deutsche sehr wahrscheinlich pünktlich sein. Bei uns in Argentinien kommt dagegen fast jeder zu spät. Es gibt kulturelle Algorithmen und es gibt individuelle. Ein Beispiel ist das Bezahlen im Restaurant. Normalerweise zahlt mal der eine, mal der andere, aber es gibt auch Menschen, die nie bezahlen, weil sie geizig sind. Das ist Arbeiten mit relevanten Signalen aus der Vergangenheit, um daraus eine Vorhersage für die Zukunft abzuleiten.
Haufe Online-Redaktion: Das funktioniert?
Chamorro-Premuzic: Das funktioniert. Allerdings muss man die Störgeräusche ignorieren und sicherstellen, dass die Signale, mit denen man arbeitet, sehr klar und aussagekräftig sind. Das Problem liegt also nicht daran, dass es Vergangenheitsdaten sind, sondern dass die Daten häufig Müll sind. Wenn ich versuche vorherzusagen, ob Sie eine gute Führungskraft werden, und die Vorhersage allein auf früheren Bewertungen Ihrer Performance basiert, kann diese unfair sein, weil Ihre Führungskraft Sie nicht mochte. Dazu kommt die Volumen-Thematik: Das Verhalten einer Person ist schwerer vorherzusagen als das Verhalten einer großen Gruppe. Das gleiche gilt für die Daten: Basiert die Vorhersage auf einer kleinen Datenmenge, wird die Vorhersage nicht so genau sein, wie wenn sie auf einer großen Anzahl verschiedener Datenformate basiert.
Wie hohe Datenschutzstandards den KI-Einsatz fördern
Haufe Online-Redaktion: Der Einsatz von Algorithmen für die Personalauswahl bringt oftmals Probleme mit dem deutschen Datenschutz mit sich. Verhindert das Datenschutzrecht in Deutschland eine hochentwickelte datengestützte Personalarbeit?
Chamorro-Premuzic: Nein, ganz im Gegenteil. Denn KI muss auf ethischen Grundlagen basieren und nach ethischen Grundsätzen eingesetzt werden. Sie muss treffsicher sein, denn nur dann kann sie ethisch sein. Und sie darf nur solche Daten nutzen, für die es eine Zustimmung gibt. Die Menschen, die die Algorithmen anwenden, sollten die Ergebnisse auch mit anderen teilen. Denn es muss auch für die Bewerberinnen und Bewerber einen Nutzen geben. Nichts von dem ist möglich, wenn es Datenlecks gibt oder wenn die Daten auf dem Markt verkauft werden. Wir brauchen strenge Regulationen und einen hohen Datenschutz – wie sie es in Deutschland gibt. Das führt nicht nur dazu, dass die Tools und Daten höher entwickelt sind, sondern es sichert auch die ethische Nutzung.
Ob im Marketing, Sales oder im HR-Bereich: Heute benötigt man Know-how im Umgang mit Daten." – Professor Tomas Chamorro-Premuzic
Haufe Online-Redaktion: Welche Kompetenzen benötigen Personalerinnen und Personaler, um ein datengestütztes Talentmanagement aufzubauen?
Chamorro-Premuzic: Es ist ähnlich wie in anderen Berufszweigen, sei es Marketing oder Sales: Heute benötigt man Know-how im Umgang mit Daten. Das heißt nicht, dass man im Keller sitzt und sich den ganzen Tag mit Rechenmodellen und Auswertungen beschäftigt. Aber man muss mit den Menschen zusammenarbeiten, die das machen, und braucht das richtige Mindset. Zu den benötigten Kompetenzen gehören ein Verständnis für die Thematik und die Fähigkeit, mit den Data Scientists zu kommunizieren und die richtigen Fragen zu stellen, die anhand der Daten beantwortet werden. Zudem muss HR in der Lage sein, das Management zu überzeugen, die Ergebnisse zu nutzen und mit ihnen zu arbeiten. Gerade bei diesem letzten Punkt besteht ein großer Nachholbedarf. Oftmals sitzt HR nicht mit am Tisch der Entscheider.
Zur Person: Tomas Chamorro-Premuzic lehrt und forscht als Professor für Business Psychology am University College London sowie an der Columbia University in New York. Er ist zudem Associate des Entrepreneurial Finance Lab der Harvard University und Chief Innovation Officer der Manpower Group.
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