Über die verschiedenen Rollen, die Digital Leader im Unternehmen einnehmen, verschaffen sie sich viel mehr Einfluss, als sie jemals allein über ihre Funktion und den eigenen Platz in der Hierarchie ausüben konnten. Digital Leader gewinnen Macht über die Relevanz ihrer Rollen im Unternehmen. Die Rollen reichen von spontanen und temporären Rollen, wie als Konfliktlöser für ein Team, bis zu geplanten und langfristigen Engagements, wie als Sponsor oder Pate für ein monatelanges Co-Creating-Projekt zur Entwicklung eines neuen digitalen Geschäftsmodells.
Mindset, Skills und Rollenverständnis des Digital Leaders
Das Rollenverständnis als Digital Leader wird von einer Grundüberzeugung geprägt: Entscheidungen und die Planung von notwendigen Ressourcen und Kompetenzen erfolgen möglichst dort, wo schnell ein großer Effekt für das Projekt oder den Kunden erzielt werden kann. Daraus ergeben sich für Digital Leader die folgenden fünf wichtigen Rollen.
Rolle 1: der Verantwortungsgeber
Die erste Rolle eines Digital Leaders ist, die eigene Führung zu teilen, Verantwortung auf spezialisierte Teams oder Projektgruppen vollständig oder temporär zu verlagern ‒ neudeutsch bezeichnet als "Shared Leadership". Gemeinsam werden inspirierende konkrete Ergebnis- und Leistungsziele gesetzt, Mitarbeiter akquiriert und aktiviert, das Lernen über Fehler und Meilensteine überprüft.
Die Rolle der Verantwortungsübertragung kann ‒ wie jede andere Rolle auch ‒ zunächst nur im Verantwortungsbereich und Wirkungsrahmen der eigenen Funktion übernommen werden, also für das eigene Team, die Abteilung und den Bereich. Generell gilt für jede Rolle als Digital Leader, dass sie im stabilen eigenen Umfeld geprobt werden kann, um Vertrauen zu sich selbst zu gewinnen.
Digital Leader entwickeln innerhalb der Hierarchie in Unternehmen Keimzellen für die digitale Transformation. Verantwortung geben ist mehr, als eine gute Teamarbeit zu ermöglichen. Das ist schon immer ein Teil guter Führung. Verantwortung geben bedeutet, dass im Team selbst über das Vorgehen entschieden und je nach Verlauf das Vorgehen justiert wird, inklusive der eigenen Ressourcen ‒ immer im Rahmen der übergreifenden Ergebnis- und Leistungsziele.
Verantwortung geben führt als "Nebeneffekt" auch dazu, dass der Digital Leader im Unternehmen nicht "einsamer Rufer in der Wüste" bleibt, sondern Verbündete gewinnt. Die beste Gelegenheit dafür bietet die projektbezogene Führungsrolle, unabhängig von der hierarchischen Funktion oder Position.
Rolle 2: der Impulsgeber
Digital Leader agieren in einem Unternehmen, jedenfalls zu Beginn der digitalen Transformation, als eine Art Evangelist, der die "frohe Botschaft" des Digital Leadership in die Organisation trägt.
Digital Leader setzen sich immer wieder neu dafür ein, dass Innovationen im Unternehmen eingeführt werden können. Dazu gehören nicht nur neue digitale Geschäftsmodelle und -abläufe. Wichtig für die Führung sind parallel die Fortschritte in Richtung einer digitalen Organisation, angefangen von der Gestaltung von Arbeitszeiten und -räumen über die Etablierung neuer Technologien zur Kollaboration bis hin zur Etablierung paralleler Organisationsstrukturen ‒ als Voraussetzung für die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle.
Impulse sollten idealerweise verborgene Energien in Unternehmen wecken. Vermeintliche Kleinigkeiten, wie neue Arbeitsroutinen in Teams, sogenannte Workhacks, können zeigen, dass anders zu arbeiten gar nicht "wehtut", sogar vieles erleichtert, das bisher für Aufregung gesorgt hat. Ein Digital Leader setzt Impulse so, dass er das Bestehende nicht wie ein Bulldozer auf dem Feld komplett platt macht. Insofern ist ein Digital Leader stets auch Brückenbauer.
Rolle 3: der Brückenbauer
Sie kennen bestimmt die Formel: Keine Zukunft ohne Herkunft. Selbst bei radikalen Veränderungen, die durch die digitale Transformation notwendig werden, gibt es in der Vergangenheit Themen, Fähigkeiten oder Verhaltensweisen, an die angeknüpft werden kann. Das Problem ist, dass das Management oft genau diese Botschaft vermittelt: "Wir müssen uns neu erfinden!" Doch ohne greifbare Details und eine realistische Perspektive für die Zukunft steigern solche Aussagen das Gefühl der Unsicherheit unnötig.
Entscheidend ist das "Abholen". Gute Führungskräfte zeigen, welche Einstellungen, Fähigkeiten oder Verhaltensweisen auch in der Zukunft bedeutsam sind. Dadurch wird die Überzeugung gestärkt, vorhandene Unsicherheiten bewältigen und Unklarheiten beseitigen zu können. Dann steigt die Bereitschaft zur Kooperation, um auch unangenehme und ungewohnte Themen anzupacken. Digital Leader machen Kollegen und Mitarbeiter zu Verbündeten. Nur selten ‒ wenn das Geschäft zusammenbricht oder ein Unternehmen vor dem Ruin steht ‒ kann eine völlige Neuorientierung und Neuerfindung in Unternehmen notwendig werden. Doch selbst dort kann, wenn das Unternehmen erhalten bleibt, meistens irgendetwas aus der Vergangenheit für die Zukunft positiv wirksam sein.
Digital Leader erzählen als Brückenauer stets auch Geschichten. Diese Geschichten ‒ im neudeutschen Fachjargon "Story Telling" ‒ müssen nachvollziehbar und relevant sein. Und sie müssen zuvor weniger Greifbares begreiflich machen. In der Digitalisierung gibt es überall Themen und Begriffe, die Angst dadurch machen, dass die Bedeutung für die Arbeit nicht klar ist ‒ Big Data, Disruption, Blockchain, künstliche Intelligenz. Ein Digital Leader muss nicht alle Begriffe in Detailtiefe erläutern. Wichtiger ist die Übersetzung: "Stellt euch vor, dass unser telefonischer Kundenservice zu jeder Zeit alle Kundenanfragen annimmt und automatisch die für uns lastigen Routinethemen sehr persönlich und immer wertschätzend sofort klärt! Wir kümmern uns um die wirklichen Probleme unserer Kunden. Das wird möglich durch künstliche Intelligenz."
Rolle 4: der Navigator
Mehr denn je schlüpfen Digital Leader in die Rolle des Navigators. Diese Rolle ergibt sich nahezu automatisch aus der Übergabe von Verantwortung, dem Impulsgeben und Brückenbauten. Dadurch werden Richtungen aufgezeigt und beim Verfolgen der gewählten Wege wird Unterstützung gegeben. Die Rolle als Navigator ergibt sich nicht aus der hierarchischen Position, sondern viel eher aus der intensiven Kooperation mit anderen Führungskräften und den Mitarbeitern sowie durch die Koordination von deren Aufgaben. Das bedeutet, dass ein Digital Leader sich weniger durch das Vermögen, eigene Ideen durchzusetzen, auszeichnet als vielmehr dadurch, die Durchsetzbarkeit der besten Ideen zu ermöglichen. Digital Leader zeigen Richtungen auf und forcieren die konsequente Umsetzung der gewählten Wege.
Der wichtigste Gesichtspunkt in Bezug auf die Rolle als Navigator ist das Thema Zielsetzung. Bekanntlich weht für keine Mannschaft der Wind richtig, wenn niemand weiß, welchen Hafen man ansteuern mochte. Und die digitale Transformation bietet viele Winde aus unterschiedlichen Richtungen und viele Häfen. Windstill wird es nie werden. Umso wichtiger ist es, als Digital Leader die jeweils passende Spielkombination zu initiieren ‒ nicht nur für sich selbst als Navigator, sondern auch für das involvierte Team.
Der Navigator forciert das ständige Justieren der Ressourcen, um möglichst schnell die Ziele zu erreichen ‒ oder zu verwerfen. In der digitalen Transformation gibt es einfach zu viele Chancen, die nicht alle genutzt werden können. Daher stellt der Digital Leader nicht per Befehl, sondern über seinen Führungseinfluss als Navigator sicher, dass Teams nicht auf die falschen Karten setzen oder mit einem schwachen Blatt versuchen, das Spiel zu gewinnen.
Durch den Digital Leader als Navigator werden Hindernisse und Herausforderungen antizipiert und das Team vorausschauend sensibilisiert, ohne dass er selbst korrigierend eingreift (außer bei akuter Gefahr im Verzug). Der Navigator bietet hierbei Gelegenheit zur Reflexion über den Kurs und die gewählten Spielkombinationen an. Er achtet darauf, dass sich Teams ‒ durchaus gut gemeint und engagiert ‒ nicht in ein Thema oder Projekt verrennen. Besonders die agilen Arbeitsmethoden bieten dazu eine Vielzahl von Instrumenten. Aber auch ein normaler wöchentlicher, kurzer Jour fixe kann sehr viel leisten ‒ mit den richtigen W-Fragen.
Rolle 5: der Experte
Der Digital Leader kann in einem Team, einem Bereich oder für ein ganzes Unternehmen aber auch eine aktive Rolle übernehmen ‒ als Experte. Dies wird nicht die Regel sein. Aufgrund der fachlichen Herkunft vieler Führungskräfte sollte diese Rille aber nicht zwanghaft unterdrückt werden. Es schadet nicht, dass ein Digital Leader in der Führung manchmal ein Digital Leader in der Technologie oder in anderen Themen der digitalen Transformation ist. Aus der Rolle als Experte leitet sich jedoch nicht der Führungsanspruch ab, wie dies traditionell in vielen Unternehmen bisher der Fall ist. Digital Leader lassen zu, dass die eigenen Mitarbeiter mehr wissen als sie selbst. Sie fordern dies sogar.
Digital Leader teilen ihr Expertenwissen aktiv und halten ihre Kompetenz nicht zurück. Das Wichtigste in der Rolle als Experte ist, mit anderen Führungskräften Erfahrungen als Digital Leader zu teilen. Mit Sparringspartnern kann intensiver am gemeinsamen Fortschritt gearbeitet werden.
Die Verantwortung, wie das Fachwissen genutzt wird, liegt jeweils beim Projektleiter oder einer anderen verantwortlichen Person. Vom Digital Leader wird das Ergebnis nur beurteilt, falls eine persönliche Gesamtverantwortung für das Thema oder Projekt besteht. Als Experte zieht sich ein Digital Leader sofort zurück, sobald das spezifische Wissen nicht mehr gebraucht wird. Floskeln wie "Was ich bei dieser Gelegenheit sagen wollte ..." sollten Sie sich möglichst verkneifen. Das Vertrauen, dass Sie als Digital Leader genau auf Ihre Rollen achten, wird sonst schnell untergraben.
Fazit
Über diese fünf Rollen verschafft sich jeder Digital Leader viele Möglichkeiten, über die eigene Position hinaus positiv für die digitale Transformation in Unternehmen wirksam zu sein, ohne sofort bei Kollegen auf Widerstand zu stoßen, weil man in "ihr Revier" vordringt. Alle Rollen der Digital Leader können sich in bestehenden Hierarchien eines Unternehmens entwickeln und dadurch diese Hierarchien weiterentwickeln, besonders die informellen Strukturen. Für die digitale Transformation sind diese sehr bedeutsam. Die Fähigkeit einer Organisation zur fortlaufenden Anpassung wird gesteigert, bevor formale Strukturen modifiziert werden können.
Dr. Michael Groß berät seit vielen Jahren Unternehmen in der digitalen Transformation. Zudem besitzt er einen Lehrauftrag an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, unter anderem im Masterseminar "Digital Leadership", und ist ein gefragter Trainer und Redner. Bekannt wurde er zuvor als Olympiasieger im Schwimmen.
Buchtipp:
Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Buch "Digital Leader Gamebook. Erfolgreich führen im digitalen Zeitalter" von Michael Groß, das bei Haufe erschienen ist. Den Titel können Sie im Haufe-Shop erwerben.