Führung abgeben: Wer wagt, gewinnt


Führung delegieren

Führen und Folgen sind die Grundlage gelingender Zusammenarbeit. Doch ihre Voraussetzungen unterliegen dem Wandel. Unser Kolumnist Randolf Jessl beleuchtet diesmal die Frage: Kann man Führung delegieren?

Die Arbeitsbelastung von Führungskräften wächst. Die Aufgaben nehmen zu, die Erwartungen auch: analog führen, virtuell führen; Geschäfte führen, Menschen führen, Verhandlungen führen; Linie, Matrix, Projekt überblicken; Menschen entwickeln, Menschen anleiten, Menschen einbremsen. Dazu noch Kostendruck, Krisen, ausufernde Bürokratie, knallharte Ziele. Und jeden Tag eine neue Überraschung.

Kein Wunder, dass sich Führungskräfte erschöpft fühlen. Laut Zahlen des Work Trend Index 2022 von Microsoft sind es 53 Prozent. Leadership-Forscherin Heike Bruch von der Universität St. Gallen kommt auf 55 Prozent. Und in einer Befragung, die der Autor dieser Zeilen Ende letzten Jahres in Auftrag gegeben hat, waren es 61 Prozent.

Wer Führung delegiert, reduziert seine Führungslast

Was also tun? Noch mehr Coaching, Yoga, Meditation und Achtsamkeitstraining? Falls möglich, gerne. Hinschmeißen? Bevor man ausbrennt und seine Umgebung in Mitleidenschaft zieht, unbedingt! Wie aber wäre es damit, Führung zu teilen? Wer Führung auf mehrere Schultern verteilt und andere in die Verantwortung nimmt, ist eingebettet in ein Kollektiv, das im wechselseitigen Führen und Folgen zusammenfindet, und reduziert die Führungslast. So die Theorie.

Aber geht das überhaupt, Führung delegieren? Meine Antwort lautet: Ganz klar Ja – und nachgeschoben ein kleines Nein. Aber der Reihe nach.

Was sich delegieren lässt, sind "Führungs-Aufgaben"

Delegieren ist Alltag im Managerleben. Das lernen junge Führungskräfte von Tag 1 an. "Du musst nicht mehr alles selbst machen, bring die anderen ins Tun", lautet dann die Empfehlung erfahrener Kolleginnen und Kollegen. Unsere Frage aber reicht weiter. Aufgaben verteilen ist etwas anderes als Führung delegieren. Aufgaben verteilen meint: "das bitte ausrechnen, dieses Mailing raussenden, dort mal anrufen". Führung delegieren heißt dagegen: "Arbeit mit anderen und für andere" an eine andere Person übertragen.

Daraus folgt: Was sich in Sachen Führung delegieren lässt, sind Führungs-Aufgaben. "Können Sie bitte den Azubi hier einweisen?", "Jenny, deine Kollegen Tom und Meike beharken sich schon wieder und ziehen die Stimmung im Team runter. Kannst du hier mal dein Moderationstalent einsetzen?", "Frau Gonzalez, bitte leiten Sie den Strategieprozess in unserer Abteilung und binden ein, wer immer dazu nötig ist. Keine ist vernetzt und erfahren wie Sie im Thema!". Und so weiter und so fort.

Auch ist das Delegieren von Führung schon weit verbreitet. Der Product Owner im Scrum-Framework kümmert sich nicht um das Teamklima und die Gruppendynamik, das delegiert sie an ihren Scrum Master. Die Unternehmerin, deren Unternehmen rasant wächst, macht nicht länger alles selbst, sondern delegiert die Führung einzelner Bereiche an eine Führungsmannschaft. Der Schuldirektor delegiert die Leitung der Gesamtlehrerkonferenzen an seine Konrektorin, die das verlässlicher, effizienter und strukturierter hinbekommt als er. Dieser Schachzug ermöglicht ihm sogar, in erhitzten Diskussionen mehr Raum zu haben, um selbst Position zu beziehen.

Was sich nicht delegieren lässt, ist "Leadership"

Deshalb: Führungsaufgaben lassen sich ganz klar delegieren. Jetzt aber das Nein. Was sich nicht wirklich delegieren lässt, ist das Vermögen, in der übertragenen Aufgabe auch Gefolgschaft der Menschen zu erreichen, die ich im Führungshandeln hinter meine Ideen, Vorschläge, Anweisungen, Entscheidungen bekommen muss. Also Leadership.

Aus diesem Grund ist Führung zu delegieren oder zu teilen kein Allheilmittel. Es muss auch die Menschen geben, die mit hoher Wahrscheinlichkeit in der übertragenen Führungsaufgabe die Kollegen, die sie dazu brauchen, hinter sich bringen. Und diese Leader müssen noch dazu bereit sein, die Führungsverantwortung auch anzunehmen. Das ist besonders dann eine Hürde, wenn im Unternehmen der Glaube vorherrscht, Führung sei nur etwas für formale Chefinnen und Chefs – und damit nicht an Hinz und Kunz übertragbar.

Braucht es das Leadership-Genie, um Führung übertragen zu bekommen?

Und jetzt? Ist dann Führung delegieren nur etwas für Vorgesetzte, die lauter Leadership-Genies in ihren Reihen haben? Nein. Denn das Leadership-Genie ist nur bei der formalen Führungskraft gefordert, die in jedem Führungskontext reüssieren muss (was sie garantiert überfordert). Wer Führungsaufgabe delegiert, überträgt nicht das XXL-Paket, sondern nur Aspekte, die erfahrungsgemäß genau dieser Person liegen. Und sie übertragt Führung in einer Aufgabe, die vielleicht genau diese Person schon mehrfach bewältigt hat.

Deshalb mein Fazit: Chefinnen und Chefs sollten unbedingt Führungsaufgaben delegieren. Und zwar dort, wo andere bessere Voraussetzungen mitbringen als sie selbst, dazu bereit sind und die Menschen, die sie für die Aufgabe brauchen, für sich einnehmen können. Dazu bedarf es Menschenkenntnis bei der Person, die delegiert. Es braucht eine Gruppe, die für delegierte Führung offen ist. Und es braucht Mut auf allen Seiten. Denn es kann auch schiefgehen (wie auch dann, wenn es die überlastete Führungskraft selbst täte).

Führung delegieren: Klein anfangen, lernen und reifen

Aus diesem Grund tun alle Beteiligten gut daran, klein anzufangen und erst einmal überschaubare Führungsaufgaben zu delegieren. Beispiele finden sich im sechsten Absatz. Schon die Übertragung kleiner Führungsaufgaben entlastet die Führungskraft. Zudem lernen die Personen, die offiziell Führung übertragen bekommen, dazu und reifen. Je öfter die Führungskraft Führung delegiert und an umso mehr Personen sie das tut, desto mehr reift die Gruppe. Das wechselweise Führen und Folgen wird selbstverständlich. Ist die Gruppe dann zunehmend eingespielt im In-die-Bresche-Springen, die Initiative ergreifen, den Konflikt lösen, das Klima verbessern, im Ziele formulieren und nachhalten, im Feedback geben und so weiter, wird es in harten Zeiten auch für die formale Führungskraft leichter.

Kurzum: Wer wagt und Führung klug delegiert, hat gute Aussicht zu gewinnen.


Randolf Jessl ist Inhaber der  Kommunikations- und Leadershipberatung Auctority. Er berät, trainiert und coacht Menschen und Organisationen an der Schnittstelle von Führung, Kommunikation und Veränderungsanliegen. Zusammen mit Prof. Dr. Thomas Wilhelm hat er bei Haufe das Buch " Shared Leadership" veröffentlicht.


Schlagworte zum Thema:  Leadership, Mitarbeiterführung