Workplace Analytics: Arbeitsbeurteilung oder Überwachung?
Wie wäre es, wenn man verlässliche Aussagen darüber machen könnte, ob Wissensarbeitende vor lauter Meetings und E-Mails nicht mehr zum konzentrierten Arbeiten kommen? Wie wäre es, wenn man wüsste, wer die tatsächlichen Schlüsselpersonen in einem großen Unternehmen sind? Wie wäre es, wenn man Vertriebsmitarbeitenden konkrete Handlungsempfehlungen auf Basis von objektiven Verhaltensdaten geben könnte, wie sie mehr Verkäufe abschließen können?
Wer glaubt, dass diese Fragen unrealistisch sind, sollte sich Angebote wie Microsoft Workplace Analytics näher anschauen: Auf Basis von Daten über E-Mails, Kalendereinträgen und Gesprächen über Microsoft Teams wird beispielsweise analysiert, wie oft Beschäftige ein zweistündiges Zeitfenster haben, in dem es keine Unterbrechung durch Meetings oder E-Mails gibt. Oder wie oft Besprechungen frühmorgens oder spätabends stattfinden. Oder wie breit und dicht das soziale Netzwerk von Mitarbeitenden ist, je nachdem wie oft sie mit wem Kontakt haben.
Wie geht Workplace Analytics?
Die sogenannte Graph-Technologie von Microsoft Office 365 sammelt Daten aus der Nutzung von Programmen wie Outlook, Teams oder Sharepoint:
- An welchen Kontakt wurde mit welcher Betreffzeile und in welchem Zeitfenster eine E-Mail geschrieben?
- Wer war mit wem wie lange in Meetings beziehungsweise Videokonferenzen?
- Wie lange wurde von wem an einem Dokument gearbeitet?
- Mit wem hat man sich vernetzt und gechattet?
Aus den Daten werden Vorschläge zur Optimierung des Arbeitsalltags generiert, wobei der Microsoft Graph nach und nach Verbindungen zwischen Personen, Dokumenten und Interaktionen knüpft und dabei lernt. Eine Funktion ist aus den Streams auf den Startseiten von sozialen Medien bekannt: Auf der Office-365-Benutzeroberfläche "Delve" werden den Anwendenden die relevantesten Dokumente angezeigt, wobei die Relevanz von der Graph-Technologie berechnet wird, und zwar anhand der Aktivitäten des Users und seiner Kollegen beziehungsweise Kolleginnen.
Zusammenhänge zwischen Ergebnis- und Leistungsvariablen
Die Auswertung dieser Daten ermöglicht Microsoft über die Angebote "MyAnalytics" und "Workplace Analytics". MyAnalytics wertet Daten für einzelne Mitarbeitende aus. Workplace Analytics bietet weitergehende Analysen, wobei diese Funktionen von Unternehmen extra hinzugekauft werden müssen (in Europa kann man meines Wissens nach noch keine Lizenz erwerben). Zunächst lassen sich Vergleiche und Drilldowns über einfache Filter erzeugen (zum Beispiel: Wie viele Eins-zu-Eins-Gespräche führen Führungskräfte unterschiedlicher Teams mit ihren Mitarbeitenden?). Dabei werden auch eigens entwickelte Kennzahlen vorgeschlagen, etwa die Anzahl an "low quality meetings" (Besprechungen, in denen mehr als 3 hierarchische Ebenen vertreten sind oder ständig E-Mails geschrieben werden). Zudem lassen sich Zusammenhänge mit Ergebnis- und Leistungsvariablen herstellen, zum Beispiel mit Zufriedenheits- und Engagement-Werten: Wie oft hatten Führungskräfte zwei Meetings parallel im Kalender und dann kurzfristig einen Termin abgesagt – und wie korreliert das mit der Zufriedenheit der Mitarbeitenden?
Zusammenhänge zwischen Verhaltensweisen und Performance
Ein zentraler Anwendungsfall ist die Korrelation mit Erfolgsmaßen, um herauszufinden, welche Verhaltensweisen zu hoher Leistung führen. Als Beispiel dient eine Studie über mehrere tausend Mitarbeitende im Microsoft-Vertrieb. Über einen Zeitraum von sechs Monaten wurden deren E-Mails und vor allem das Meeting-Verhalten ausgewertet, um beispielsweise Informationen darüber zu bekommen, wie viel Zeit eine Vertriebsmitarbeiterin bei (potenziellen) Kunden beziehungsweise mit ihrer Vorgesetzten verbracht hat und wie groß ihr soziales Netzwerk in der eigenen Organisation ist. Die Leistung wurde über die Vertragsabschlussrate gemessen. Durch lineare Korrelation der Kommunikations- und Netzwerkdaten mit den Vertragsabschlussraten ergaben sich folgende Ergebnisse für die Top-Performer:
- Top-Performer verbrachten 18 bis 33 Prozent mehr Zeit mit Kunden (und haben 40 Prozent weniger Kunden als der Durchschnitt bei Low-Performern).
- Top-Performer hatten ein 30 bis 40 Prozent größeres internes Netzwerk (entspricht 10 bis 20 Personen mehr).
- Top-Performer arbeiteten zwei bis vier Stunden pro Woche länger.
- Top-Performer verbrachten mehr Zeit mit ihren Vorgesetzten beziehunsweise dem Senior Management.
Die Implikationen für das Performance Management liegen auf der Hand: Jene Vertriebler, die durchschnittlich weniger Abschlüsse vorweisen können, sollten mehr Zeit mit ihren Vorgesetzten sowie mit (weniger) Kunden verbringen und zugleich auf den Aufbau und die Pflege ihres internen Netzwerks achten. Soweit ist dies kaum verwunderlich und deckt sich weitgehend mit anderen Studien. Die Stärke von Workplace Analytics ist, Werte auszurechnen und dadurch konkrete Handlungsempfehlungen geben zu können, wenn auch nur für die Daten aus dem jeweiligen Kontext. In diesem Fall ist es beispielsweise besser, wenn Vertriebler ihre Zeit für Kunden (15 Stunden pro Woche) nicht auf 15 Accounts aufteilen, sondern wenn sie stattdessen jeweils drei Stunden bei insgesamt fünf Kunden verbringen.
Empfehlungen für das Talent Management
Darüber hinaus lassen sich auch Empfehlungen für das Talent Management ableiten. So könnten Personaler schon beim Onboarding die soziale Vernetzung befördern, indem sie neue Beschäftigte aktiv mit Kollegen aus unterschiedlichen Abteilungen in Kontakt bringen. Oder sie könnten Anlässe schaffen, bei denen sich Vertriebler gezielt mit Personen aus jenen Abteilungen treffen, die in ihrem Netzwerk noch fehlen beziehungsweise zu denen die Verbindungen zu schwach ausgeprägt sind. Was nun wiederum "zu schwach" genau heißt, kann der Vergleich mit den Top-Performern zeigen.
Soziale Netzwerkanalyse
Auf Basis der sozialen Netzwerktheorie beziehungsweise der organisationalen Netzwerkanalyse lassen sich weitere Aussagen über die (Zusammen-)Arbeit treffen:
- Wer ist mächtig oder ein informeller Entscheidungsträger?
- In welchen Beziehungsstrukturen entstehen neue Ideen?
- Wer ist eher ein Wissensmakler, wer ein in sich gekehrter Experte?
- Wer trägt zur Vernetzung zwischen Teams, Abteilungen und Organisationen bei?
- Wessen E-Mails oder Posts erzeugen viele Reaktionen, sind also offenbar relevant?
- Welche Personen werden oft um Rat gefragt (per E-Mail oder Besprechungseinladung)?
- Wieso machen bestimmte Personen Karriere und andere nicht?
Antworten auf diese Fragen geben mathematische Auswertungen zur Netzwerkstruktur und den Beziehungen. Zu den wichtigsten Kennzahlen zur Beschreibung von organisationalen Netzwerken gehören Zentralitätsmaße und Prestigemaße zur Messung der Bedeutung und des Einflusses von Akteuren und ihrem Ansehen. Dafür werden in der Netzwerkanalyse Verbindungen zwischen Akteuren abgebildet. Akteure sind zum Beispiel einzelne Beschäftigte oder auch Abteilungen einer Organisation beziehungsweise deren Online-Profile oder Mailaccounts. Als Indikator für die Verbindungen können beispielsweise Mail-, Telefon- und Chatkontakte, aber auch gemeinsame Meetings oder Abteilungszugehörigkeiten ausgewertet werden.
Kennzahlen für Rang und Prestige
Anhand dieser Daten berechnet man beispielsweise mit der Betweenness Centrality eines Akteurs, wie viele kürzeste Verbindungen zwischen zwei anderen Akteuren durch diesen einen Akteur führen, und erhält damit ein Maß für seine Bedeutung. Akteure mit hoher Betweenness Centrality haben sehr viele direkte Kontakte oder liegen oft "auf dem Weg" oder "zwischen" zwei anderen Akteuren. Solche Akteure dienen als Mittler, weil über sie Informationen und Wissen auf kurzen Wegen weitergegeben werden können. Sie haben auch die Möglichkeit, Kontrolle auszuüben, weil andere Akteure nur unter hohem Aufwand an ihnen vorbeikommen. Im Extremfall verbindet ein solcher Akteur zwei Subgruppen, die ohne ihn nicht interagieren könnten. So ein Akteur hat starke Kontroll- und Profitmöglichkeiten.
Weitere Zentralitätskennzahlen beschreiben, wie nah oder fern sich Akteure sind (Closeness Centrality) und mit wie vielen Akteuren ein Akteur in Kontakt steht (Degree Centrality). Letzteres steht im Fokus der oben erläuterten Microsoft-Studie. Ähnlich wie für Zentralität gibt es auch für die Berechnung des Prestiges mehrere Kennzahlen. Mit dem Degree-Prestige wird erfasst, wie oft ein Akteur von anderen für eine Kontaktaufnahme gewählt wird. Die Kennzahl Rang-Prestige berücksichtigt zudem, wie wichtig der Akteur ist, der die Wahl trifft – sie gibt der Verbindung mehr oder weniger Gewicht, weshalb das Prestige eines Akteurs (langfristig) steigt, wenn er von anderen prestigeträchtigen Akteuren gewählt wird (auf dieser Idee basiert auch Googles ursprünglicher Page-Rank-Algorithmus). Proximity-Prestige wiederum berücksichtigt die Pfadlänge und gilt als Maß der relativen Erreichbarkeit von Akteuren.
Aussagen zur Netzwerkstruktur möglich
Mit diesen Kennzahlen können bereits einige Aussagen zur Netzwerkstruktur getroffen und Optimierungen abgeleitet werden:
- Wo sollte es zentrale Positionen (Schlüsselpersonen, Hubs) geben, wo sollten die Kommunikationsströme auf mehrere Akteure verteilt sein (Analyse der Degree Centrality)?
- Welche Akteure können anderen mit ihrem Wissen und ihrem Einfluss zu besserer Leistung oder einem Karriereschritt verhelfen (Abschätzung über die Betweenness-Centrality)?
- Wo gibt es strukturelle Löcher, sodass Akteure vom Informationsfluss abgeschnitten sind, und welche Akteure könnten am einfachsten Brücken zu den Abgeschnittenen bauen (Berechnungen über die Closeness und Degree Centrality)?
In der digitalen Arbeitswelt können soziale Netzwerke als Nebenprodukt der täglichen Arbeit automatisch erfasst und einfach visualisiert werden – beispielsweise über Office 365 oder die Software von Keen Corp, Kenelyze, Node-XL, Trust Sphere, UCI-Net und anderen Anbietern.
Was man noch damit machen kann
Die Einsatzmöglichkeiten von Netzwerkanalysen sind breit gefächert, weil Beziehungen sowohl unser wirtschaftliches als auch gesellschaftliches und privates Leben beeinflussen. Die Fragestellungen zielen letztlich immer auf die Wirkung von Einflussnahme (Macht), Prestige und auf die Ausgestaltung von Kooperations- und Kommunikationsbeziehungen: Wer beeinflusst wen – sei es nun eine Kollegin, Kundin, Chefin, ein anderes Team oder den Betriebsrat? Sofern Daten über Microsoft Office 365 gesammelt werden, sind sie natürlich auf die Arbeit mit eben diesen Softwareprodukten beschränkt. Anbieter wie Trust Sphere oder Keen Corp beziehen die Daten für ihre Netzwerkanalysen aus vielen weiteren Anwendungen wie Slack, Salesforce, Sugar-CRM, IBM Connections und Notes. Dadurch können nicht nur intra- und interorganisationale Kommunikationsströme ausgewertet werden, sondern auch die Interaktion mit Kunden, was Leistungsmessungen anhand von kundenbezogenen Kennzahlen ermöglicht.
Auch im Bereich Diversity and Inclusion gibt es Anwendungsfälle. Zum Beispiel wurde bei einem Finanzdienstleistungskonzern untersucht, inwiefern interne Netzwerke förderlich für die Karriere von weiblichen Mitarbeitenden sind. Ähnliche Fragestellungen sind für andere Gruppen denkbar: Werden Mitarbeitende mit anderer Hautfarbe, Religion beziehungsweise ethnischer Abstammung in die organisationalen Netzwerke eingebunden oder eher ausgeschlossen? Welchen Einfluss können sie geltend machen und welches Prestige haben sie? Die Ergebnisse können Augen öffnen und Wandelprozesse anstoßen.
Was (noch) nicht geht
In Deutschland ist die Implementierung von technischen Überwachungseinrichtungen mitbestimmungspflichtig. Darunter fallen Programme wie der Outlook-Kalender und erst recht das komplette Microsoft Office-365-Paket. Außerdem haben Landesarbeitsgerichte und das Bundesarbeitsgericht bereits mehrfach bestätigt: Eine dauerhafte Sammlung von Daten ohne konkreten Zweck ist gesetzeswidrig. Dennoch gibt es legitime Zecke und legale Vorgehensweisen, die im Einzelfall den Datenschutz- und Persönlichkeitsrechten sowie dem Betriebsverfassungsgesetz nicht entgegenstehen. Etwa, wenn zur Vermeidung von ungleicher Arbeitsbelastung in einem abgegrenzten Zeitraum Stichproben gezogen und Daten nur anonymisiert oder aggregiert erhoben und ausgewertet werden.
Microsoft weist darauf hin, dass Daten pseudonymisiert und aggregiert erhoben werden. Namen und E-Mail-Adressen werden durch einen alphanumerischen Code ersetzt und Ergebnisse werden nur bis auf Gruppen von fünf Personen genau ausgewertet. Dennoch sind die verarbeiteten Daten als personenbezogene Daten zu werten, weil die einzelnen Personen über das Hinzuziehen anderer Daten identifiziert werden könnten.
Sind die Erhebung und Auswertung gesetzlich und betrieblich erlaubt, gilt es die Daten in Bezug auf ihre inhaltliche Aussagekraft zu validieren. Zunächst ist festzuhalten, dass nicht alle Tätigkeiten über Microsoft-Produkte laufen, denn einerseits verwenden gerade Wissensarbeiter noch andere Programme und andererseits arbeiten sie immer wieder auch ganz ohne Software. Zudem werden nicht alle Datenpunkte valide das widerspiegeln, was man in ihnen vermutet. Beispielsweise muss ein Meeting-Eintrag in Outlook nicht heißen, dass die betreffende Person tatsächlich bei der Besprechung war. Selbst wenn sie das Meeting wahrgenommen hat, muss dies nicht bedeuten, dass tatsächlich eine Beziehung zu anderen aufgebaut wurde. Und: Häufige Interaktion kann ebenso eine freundschaftliche Beziehung oder enge Seilschaft signalisieren wie einen immer wieder aufkeimenden Streit.
"Je mehr sich die Arbeitsprozesse im digitalen Raum abspielen, desto eher bilden die hinterlassenen Datenspuren ab, was Arbeit und Leistung ausmacht."
Die Ergebnisse, die über Microsoft Workplace Analytics geliefert werden, kommen ohne Rückgriff auf (sozial-)psychologische Konstrukte wie Persönlichkeitseigenschaften, Leistungsmotivation oder intrinsische Motivation aus, deren Messung schwierig und kaum objektiv ist. Allerdings wird mit dem reinen Fokus auf Verhaltensdaten die sozialpsychologische Komplexität von Arbeit unterschätzt. Zwar lassen sich dadurch relativ konkrete Handlungsempfehlungen geben, aber diese können kontraproduktiv sein, weil sozialpsychologische Faktoren vernachlässigt werden. Nimmt man zum Beispiel eine Empfehlung wie "Erhöhe die Anzahl und Dauer von Meetings mit Kunden" und denkt dann an einen unangenehmen oder unzuverlässigen Vertriebler, so wird klar, dass es wahrscheinlich zu negativen Kundenreaktionen kommt, wenn sie nun von diesem Vertriebler öfter besucht werden.
Fazit: keine vorschnellen Schlüsse
Arbeit und Leistung können weder quantitativ noch qualitativ auf E-Mails und Besprechungen reduziert werden. Aber je mehr sich die Arbeitsprozesse im digitalen Raum abspielen, desto eher bilden die hinterlassenen Datenspuren ab, was Arbeit und Leistung ausmacht. Natürlich geht es neben den Fragen, ob Workplace Analytics inhaltlich valide, wirtschaftlich sinnvoll und rechtlich erlaubt sind, auch darum, ob sie erwünscht sind: Wollen wir das? Wenn ja: Bis zu welchem Grad und Preis? Und wenn nein: Was sind die Alternativen und was sind deren Limitationen und unerwünschte Folgewirkungen? Je nach Anwendungsfall werden die Antworten unterschiedlich ausfallen: Es macht einen großen Unterschied, ob man Personengruppen identifizieren möchte, die einer Diskriminierung oder Ausgrenzung ausgesetzt sein könnten, oder ob man die Mitarbeitenden in Top- und Low-Performer einteilt. Während die Analysen im ersten Fall als schützenswerte Kontrolle aufgefasst werden können, laufen sie im zweiten Fall Gefahr, Leistung nur unzureichend zu bewerten und zur Totalüberwachung zu mutieren. Das verdeutlicht, dass Analyse und Kontrolle immer janusköpfig sind: Sie vermitteln Schutz, Sicherheit und Ordnung, aber auch Bloßstellung, Zwang und Einschränkung.
Dieser Beitrag ist im Sonderheft "Personalmagazin plus HR-Software 2020" erschienen. Das Sonderheft können Sie hier kostenlos als PDF herunterladen.
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