Worauf es beim Recruiting im Vertrieb ankommt
Recruiterinnen und Recruiter, die Vertriebspositionen zu besetzen haben, stehen gleich vor mehreren Herausforderungen. Die eine ist der Fachkräftemangel. Im Vertrieb zeichnet sich ein stark zunehmender Bedarf an Fach- und Führungskräften ab. So haben die Unternehmen in Deutschland im vierten Quartal 2021 knapp 46 Prozent mehr Stellen für Vertriebspositionen ausgeschrieben als im Vorjahreszeitraum. Laut einer Erhebung der Online-Karriereplattform Salesjob.de stieg das Jobangebot im Bereich Vertrieb und Verkauf von 268.153 offenen Positionen im vierten Quartal 2020 auf 390.153 freie Stellen im vierten Quartal 2021.
Wichtige Persönlichkeitsfaktoren im Vetrieb
Die zweite Herausforderung ist, eine Antwort auf die Frage zu finden: Was macht einen erfolgreichen Vertriebler, eine erfolgreiche Vertrieblerin aus? Das ist schwierig, weil der Vertrieb so bunt ist wie seine Produkte. "Es gibt ganz unterschiedliche Verkaufspersönlichkeiten, die erfolgreich werden können", sagt Dr. Julia Titze. Sie befasst sich seit 15 Jahren sowohl in der Wissenschaft als auch in der Praxis mit dieser Fragestellung und hat einige Kernpunkte herausgearbeitet, die eine gute Vertrieblerin oder einen guten Vertriebler ausmachen.
Einer der Persönlichkeitsfaktoren, die zum Erfolg im Vertrieb beitragen, ist Extraversion. "Das ist das, was man sich landläufig unter einer Vertriebspersönlichkeit vorstellt: jemand, der gern im Mittelpunkt steht, viel redet, emotional ist. Aber in der Forschung zeigt sich, dass diese Personen nicht extrem erfolgreich sind, weil sie sehr laut und dominant sein können", erklärt Julia Titze, die als externe Forschungspartnerin der Universität Bonn zahlreiche Studien durchgeführt hat. "In manchen Fällen kann das sogar negativ bei Kunden ankommen, weil sie sich vielleicht bedrängt oder nicht gehört fühlen." Deshalb gelte nicht das Prinzip "Je mehr, desto besser", sondern es gebe ein bestimmtes Maß an Extraversion, das gut ist. Alles andere sei zu viel des Guten.
Extrovertierte Personen, die immer im Mittelpunkt stehen und viel reden, sind im Vertrieb nicht unbedingt erfolgreich. In manchen Fällen kann das sogar negativ bei Kunden ankommen." - Julia Titze, HR-Spezialistin im Vertrieb
Ein zweiter Faktor ist Gewissenhaftigkeit. "Darunter fallen insbesondere Facetten wie Leistungsmotivation und Disziplin", so Julia Titze. Disziplin sei für die selbstständig und im Außendienst Tätigen wichtig, um nicht Impulsen nachzugeben, wie: "Heute ist schönes Wetter, mich kontrolliert sowieso keiner." Leistungsmotivation kommt vor allem in Bereichen zum Tragen, in denen Erfolge erst zeitverzögert sichtbar werden. Auch bei Gewissenhaftigkeit gilt, dass das richtige Maß vorhanden sein sollte. "Bei einer zu hohen Leistungsmotivation finden wir häufig auch eine geringe Frustrationstoleranz, wenn etwas nicht klappt. Das führt auf Dauer nicht zum Erfolg", so Julia Titze.
Als dritter Persönlichkeitsfaktor gelten soziale Fertigkeiten. Diese sind wichtig, weil das geschickte Agieren in sozialen Situationen gefragt ist, das Erkennen von Kundenbedürfnissen, das Eingehen auf das Gegenüber und Selbstreflexion. Auch das Networking gehört dazu. Dazu die Expertin: "Networking bezieht sich nicht nur auf die Kunden, sondern auch auf das persönliche Netzwerk, zum Beispiel zum Innendienst: Wen kann ich anrufen, wenn ich nicht weiterkomme? Wie kann ich einen Sonderfall klären? Wer ein gutes Netzwerk hat, kann schnellere und bessere Lösungen bereitstellen."
Eine weitere Eigenschaft ist emotionale Stabilität. Darunter ist eine hohe Stressresistenz zu verstehen, Ausgeglichenheit und die Fähigkeit, mit Misserfolgen umzugehen. Absagen sollten nicht persönlich genommen, sondern mit Distanz betrachtet werden. Besonders in Vertriebspositionen mit einem hohen Akquiseanteil, bei denen es zu vielen Ablehnungen kommt, ist emotionale Stabilität ein entscheidender Persönlichkeitsfaktor.
Punkte wie hohe Gehälter und Boni oder exklusive Firmenwagen haben an Bedeutung verloren, flexible Arbeitszeiten, Homeoffice und kontinuierliche Weiterbildung sind stärker gefragt." - Diana Schwarzmüller, Personalberaterin
"Durch Corona und Homeoffice hat die emotionale Stabilität noch mehr an Bedeutung gewonnen", ergänzt Diana Schwarzmüller. Sie ist Inhaberin der Personalberatung Top-Vertrieb 24 und hat in ihrer langjährigen Praxis festgestellt, dass aus Kundensicht darüber hinaus Offenheit und Seriosität gefragt sind. "Wir mussten schon eine Kaufentscheidung fällen, obwohl wir das Produkt nicht gänzlich verstanden haben. Da wir unmöglich alle fachlichen Aspekte prüfen können, hängt diese Entscheidung meist von der Vertrauenswürdigkeit der Person ab", weiß sie.
Auf den Kontext kommt es an
Aber nicht nur die richtige Mischung der genannten Persönlichkeitsfaktoren entscheidet darüber, ob sich jemand für eine Vertriebsposition eignet, sondern auch der Verkaufskontext. Es macht einen großen Unterschied, ob eine Altersvorsorge verkauft wird, bei der es um existenzielle Sicherheit geht, oder ein Reiseerlebnis, das Emotionen verspricht – ob es darum geht, Ruhe auszustrahlen oder Begeisterung zu vermitteln. "Wichtig ist natürlich auch das Interesse an dem Produkt oder der Dienstleistung", so Diana Schwarzmüller. Ein Sportmuffel könne zwar Verkaufsargumente für die Mitgliedschaft in einem Fitnessstudio auswendig lernen, müsse im Verkaufsgespräch aber die eigene Überzeugung verleugnen. Das erhöht die Gefahr eines Burn-outs. Darüber hinaus steigt für das Unternehmen der Aufwand an Vertriebsschulungen.
Auch innerhalb einer Branche oder eines Unternehmens können unterschiedliche Vertriebspersönlichkeiten gefragt sein, zum Beispiel für den Bestandskundenvertrieb und die Neukundenakquise. Und es gibt unterschiedliche Belohnungssysteme, zum Beispiel für einzelne Leistungen und für Teamleistungen, die andere Menschen anziehen und ein anderes Verhalten fördern. Die Personalberaterin rät deshalb jedem Unternehmen dazu, zuallererst ein klares Anforderungsprofil mit Blick auf den Verkaufskontext und die Firmenspezifika zu erstellen.
Recruiting im Vetrieb: Das Anforderungsprofil als Basis
"Vertrieb ist nicht gleich Vertrieb. Deshalb muss das Anforderungsprofil individuell auf die jeweilige Tätigkeit abgestimmt werden", bekräftigt Julia Titze. Sie empfiehlt die Critical Incident Technique nach John C. Flanagan als Basis. Mit dieser Methode werden Faktoren für ein besonders effektives beziehungsweise ineffektives Verhalten bei der Arbeit erfasst. Sie sollte als Basis für die Entwicklung von Interviewleitfäden und Assessment Centern dienen.
Um diejenigen Personen auszuwählen, die das so erstellte Anforderungsprofil erfüllen, eignen sich ihrer Erfahrung nach strukturierte Interviews sowie Assessment Center. Doch beim AC begehen viele Unternehmen einen Fehler: "Häufig denken die Unternehmen, dass ihre Arbeitssituation zu komplex ist, und gestalten stark vereinfachte Aufgaben. Diese lauten zum Beispiel: ‚Verkaufen Sie diesen Stift.‘ Doch damit bilden sie in keiner Weise die Arbeitsrealität ab", erklärt Julia Titze. "Mit einer solchen Übung können sie feststellen, ob jemand eloquent ist und auf die Person gegenüber eingeht. Sie können grundlegende Verhaltensweisen beobachten, aber ein Transfer in die Realität und die eigentliche Aufgabe ist nur selten möglich." Sie rät deshalb dazu, das Szenario im Assessment Center möglichst tätigkeitsnah zu gestalten. Das helfe auch den Bewerbenden, denn auch sie möchten herausfinden, ob die Tätigkeit zu ihnen passen würde. "Das erfahren sie nicht, wenn sie einen Stift verkaufen", sagt sie.
Verbesserungsbedarf im Recruiting
Aber auch im Jobinterview lauern Fallen, weiß Julia Titze. Ein Beispiel seien Interviews, die nette Kennenlerngespräche sind, aber keine strukturierten oder halbstrukturierten Interviews. "In einem Kennenlerngespräch werden die entscheidenden Aspekte nicht herausgearbeitet: Wie sind die Persönlichkeitseigenschaften? Passt die Motivation? Wollen die Personen wirklich verkaufen oder eher beraten und vermeiden so später im Job Verkaufs- oder Akquisesituationen? Stimmen die Lebensziele mit dem, was der Beruf bietet, überein? Das ist einer der häufigsten Gründe für Fluktuation", weiß sie.
An anderen Stellen im Vertriebs-Recruiting hakt es ebenfalls, angefangen bei zu langen Recruiting-Prozessen bis hin zu den typischen Beobachtungs- und Wahrnehmungsfehlern bei der Personalauswahl.
In manchen Unternehmen besteht das Problem, dass Führungskräfte im Vertrieb kleine Kopien von sich selbst rekrutieren und dass auf diese Weise äußerst homogene Vertriebsteams aufgebaut werden. Doch Diversity ist wichtig für jeden Vertrieb, damit neue Ideen entstehen können.
Die Gefahr der zu einheitlichen Vertriebsteams ist heute nur noch selten gegeben, hat Diana Schwarzmüller in ihrer Beratungstätigkeit festgestellt: "Sieht man sich in einem Unternehmen Auswertungen der Top-20-Verkaufspersonen an, ist das oft eine bunte Mischung von verschiedenen Persönlichkeiten. Diese haben gewisse Punkte gemein wie Gewissenhaftigkeit und eine große Leistungsmotivation. Dem können aber ganz unterschiedliche Motive zugrunde liegen, zum Beispiel der Wunsch, viel Geld zu verdienen, eine steile Karriere zu machen oder ein hohes Ansehen zu erreichen."
Auch das Verhältnis von Männern und Frauen im Vertrieb wird ausgewogener. Es gibt zwar Branchen wie die Bau- oder Versicherungsbranche, in denen vornehmlich Männer im Vertrieb tätig sind, oder den Strukturvertrieb von Haushalts- und Kosmetikprodukten, bei dem der Frauenanteil überwiegt. Aber gerade in solch speziellen Bereichen kann das andere Geschlecht sehr erfolgreich sein, weil es als Musterunterbrecher heraussticht.
"Sales" schreckt Frauen ab
Allerdings führen immer noch einige Faktoren dazu, dass Frauen im Vertrieb unterrepräsentiert sind. Ein Faktor ist die Sicherheit: Frauen haben in der Regel ein höheres Sicherheitsbedürfnis. "Eine Vertriebssituation ist maximal unsicher. Ich weiß nicht, ob ich mit einem Vertragsabschluss nach Hause gehe. Ich kann das zwar ganz gut vorbereiten, aber nicht zu 100 Prozent planen. Das schreckt viele Frauen ab", sagt Julia Titze. Auch die Tatsache, dass Vertriebstätigkeiten häufig als selbstständige Handelsvertretung konzipiert sind, führe dazu, dass sich weniger Frauen angesprochen fühlen. Denn für viele gelte immer noch die Devise: Eine Festanstellung bietet weniger Risiken, wenn irgendwann die Familienplanung ansteht. "Für mich ist das ein Vorurteil, mit dem ich aufräumen möchte. Viele Betriebe bieten hierfür kreative Lösungen an, zum Beispiel eine selbstständige Tätigkeit in Teilzeit", sagt sie.
Ein weiterer Faktor, der Frauen von einer Bewerbung abhält, ist das Wording in Stellenanzeigen: Vertriebspositionen werden häufig mit "Sales" oder "Vertrieb" bezeichnet und ziehen weniger Bewerberinnen an als beispielsweise der Jobtitel "Beratung" oder "Consulting". "Insgesamt identifizieren sich mehr Menschen im deutschsprachigen Raum mit dem Wort ‚Beratung’ als mit dem Wort ‚Vertrieb‘. Damit erhalten Unternehmen eine höhere Bewerbungsquote – wenn das ihr Ziel ist“, so Julia Titze.
Geänderte Rahmenbedingungen im Vetrieb
Die Bewerber-Pools werden kleiner, die Teams diverser, die Bedeutung professioneller Recruiting-Prozesse und Auswahlinstrumente nimmt zu. Das Vertriebs-Recruiting muss sich immer wieder neu anpassen. Dazu tragen auch äußere Einflüsse bei. "Punkte wie hohe Gehälter und Boni oder exklusive Firmenwagen haben an Bedeutung verloren, flexible Arbeitszeiten, Homeoffice und kontinuierliche Weiterbildung sind stärker gefragt. Auch der Wunsch nach einer Firmenkultur, die auf Wertschätzung und positivem Arbeitsklima basiert, nimmt eine höhere Priorität ein", weiß Diana Schwarzmüller.
Auf einem Arbeitnehmermarkt müssen sich die Unternehmen stärker an die Bedürfnisse der Bewerbenden anpassen. Dazu zählt, dass sie die Personen, die Jobinterviews führen oder Assessments beobachten, auch für die Themen Empathie und Wertschätzung schulen. "Denn 18 Prozent der Bewerbenden wissen innerhalb der ersten fünf Minuten im Vorstellungsgespräch, ob sie die Stelle im Falle einer Zusage annehmen wollen oder nicht. Somit ist auch der Faktor Mensch nicht zu unterschätzen", sagt sie.
Wie in vielen anderen Berufen kommen auch im Vertrieb neue Anforderungen auf die Fachkräfte zu, in erster Linie Lernbereitschaft und die Offenheit für neue Wege, auch für digitale Lösungen. Ansonsten werde sich bei Vertriebsberufen, die Produkte mit einem hohen Erklärungsbedarf und einer gehobenen Preisklasse im Fokus haben, wenig ändern, meint Julia Titze. "Denn Menschen wollen Menschen weiterhin live treffen. Nur die Aktenkoffer mit Broschüren werden verschwinden und durch Präsentationen auf dem Laptop oder Tablet ersetzt."
Dieser Beitrag ist erschienen in Personalmagazin Ausgabe 3/2022. Lesen Sie das gesamte Heft auch in der Personalmagazin-App.
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