Buchbesprechung Cawa Younosi: Die große Potenzialverschwendung

Veraltete HR-Instrumente, Bildungs­ungerech­tigkeit, Altersteilzeit: Unter­nehmen und Gesell­schaft verschwenden das Potenzial so vieler Menschen, moniert Cawa Younosi. Er fordert mehr Mut für zukunfts­gerichtetes Handeln. Anlässlich des Erscheinens seines neuen Buches "Die große Potenzialverschwendung" sprachen wir mit dem Autor und Geschäftsführer der "Charta der Vielfalt".

Personalmagazin: Herr Younosi, in Ihrem Buch prangern Sie "Die große Potenzialverschwendung" an. Wer verschwendet hier was?

Cawa Younosi: Mir ist in den vergangenen Jahren immer klarer geworden, dass wir große Schwierigkeiten mit dem Transfer von Evidenz in die Praxis haben. Die Unternehmen machen nach wie vor viele Dinge einfach deshalb, weil sie sie schon immer so gemacht haben, obwohl vieles davon vor Jahrzehnten entwickelt wurde, im Industriezeitalter.

Personalmagazin: Wovon sprechen Sie?

Cawa Younosi: Wo soll ich anfangen? Sei es beim Talentmanagement, beim Thema Kompensation oder beim Performance Management – in so vielen Fällen denken zu wenige Menschen und Organisationen darüber nach, wie sie das, was die Wissenschaft schon lange herausgefunden hat, in der Praxis umsetzen. Im Ergebnis sehen wir viel zu viele Prozesse, die keinerlei Outcome haben, die ineffizient und ineffektiv sind und deswegen nicht die Resultate erzielen, die Organisationen sich von ihnen erhoffen. Und die Bereitschaft, diese Fehlentwicklungen zu korrigieren, ist ebenso wenig ausgeprägt.

Potenzialverschwendung im Performance Management

Personalmagazin: Was meinen Sie konkret?

Cawa Younosi: Nehmen wir das Beispiel Performance Management. Im Moment sind wir Zeugen einer heftigen Diskussion über fehlende Leistungsbereitschaft. Aber die meisten Unternehmen haben überhaupt keine Kriterien, um zu definieren, wie sich Mitarbeitende in ihrer Leistung unterscheiden, was die einen im Vergleich mit anderen qualifiziert. Wissenschaftliche Untersuchungen haben schon lange gezeigt, dass das Forced Ranking, also die jährliche Einteilung der Mitarbeitenden in sogenannte High Performer, Low Performer und eine große Mehrheit von Normal-Performern, nicht hilft, um die Produktivität der Menschen zu erhöhen. Trotzdem setzen viele Unternehmen weiter darauf. Und manche, die in den vergangenen Jahren davon Abstand genommen haben, führen es wieder ein. Wir wissen, dass es nichts bringt, machen es aber trotzdem, denn irgendwie müssen wir auf die Herausforderungen reagieren. Das nenne ich Potenzialverschwendung.

Personalmagazin: Woran liegt das, dass wir trotz wissenschaftlicher Erkenntnisse auf veraltete Methoden setzen?

Cawa Younosi: Das ist ein Offenbarungseid, den wir alle täglich leisten. Zahlreiche Studien belegen, dass Menschen vor allem mehr Flexibilität bei der Arbeitszeitgestaltung wünschen und eine Mitsprache bei der Einsatzplanung. Ganz wenige wollen ausschließlich remote arbeiten oder komplett zurück ins Büro. Untersuchungen zeigen auch, dass es sich nicht direkt negativ auf die Produktivität auswirkt, wenn Mitarbeitende hybrid arbeiten. Wir wissen das alles, dennoch diskutieren wir in den Unternehmen nicht, wie wir Flexibilität und Mitsprache bei der Arbeitszeitgestaltung im Sinne des Unternehmens gestalten können oder wie wir Hybridarbeit erfolgreich organisieren. Sondern wir zwingen die Menschen zurück in die Büros, halten an starren Schichtplanungen fest und setzen auf Leistungsbewertungen aus den frühen 1990er-Jahren. 

"Wichtig wäre, nach der richtigen Passung zwischen dem Können und Wollen jedes Mitarbeiters und der Aufgabe zu suchen." – Cawa Younosi

Das hat in meinen Augen mehrere Gründe. Zum einen suchen Menschen in ungewissen Zeiten nach Dingen, die einmal erfolgreich waren und halten sich daran fest – nach dem Motto "Hat damals geholfen, hilft jetzt auch". Forced Ranking mag nicht die gewünschten Ergebnisse liefern, aber es bietet Orientierung und Halt. Zum anderen fehlt HR oftmals das Wissen, etwa beim Performance Management. So kommen der Wunsch, zumindest das Gefühl von Kontrolle zu haben, und das fehlende Können der eigentlichen Experten zusammen. Am Ende nimmt man, was man kennt, und arbeitet mit Werkzeugen, die für die anstehenden Aufgaben ungeeignet sind. Viel wichtiger wäre, nach der richtigen Passung zwischen dem Können und Wollen jedes Mitarbeiters und der Aufgabe zu suchen. Dieses Matching arbeitet an den Ursachen, alles andere behandelt nur Symptome. 

Personalmagazin: HR müsse Interesse an den Mitarbeitenden haben, schreiben Sie in Ihrem Buch, sich Zeit für sie nehmen. Das kostet Geld, gleichzeitig ist HR stark ausgelastet mit Verwaltungsaufgaben.

Cawa Younosi: Das stimmt leider. Zuletzt hat das die HR Experience Studie 2024 von Haufe gezeigt. Mitarbeitende nehmen HR häufig gar nicht wahr oder nur dann, wenn irgendetwas an der Gehaltsabrechnung nicht stimmt. HR verbringt zu viel Zeit mit Verwaltung und zu wenig im Austausch mit den Mitarbeitenden. Digitalisierung und Künstliche Intelligenz können diese administrative transaktionale Last reduzieren. Dadurch kann HR sich mit den bestehenden Kapazitäten um die Mitarbeiterentwicklung kümmern und  die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens sichern.

Buchtipp: Cawa Younosi, "Die große Potenzialverschwendung. Der Fachkräftemangel und die verborgenen Chancen für Menschen, Unternehmen und die Gesellschaft.", Haufe-Verlag, 2024.

Personalmagazin: Trotzdem kostet das alles Geld. 

Cawa Younosi: Die transaktionale Arbeit, die Unternehmen leisten müssen, um ein Ratingsystem für Hunderte oder Tausende Mitarbeitende aufzubauen und am Leben zu erhalten, kostet auch viel Zeit und Geld. Und das ist eine Verschwendung sondergleichen, denn die Ratingsysteme bringen nichts in Sachen Kundenorientierung, Leistungsbereitschaft und Wirksamkeit der Mitarbeitenden. Es ist vielmehr im ureigenen Interesse von Geschäftsführung und Vorstand, dass die Mitarbeitenden jeweils genau dort zum Einsatz kommen, wo sie die größte Wirkung für das Unternehmen entfalten können. 

Stillstand bei Bildung, Migration und der Integration Älterer

Personalmagazin: Das war der organisationale Aspekt. In Ihrem Buch beklagen Sie auch den Stillstand bei Bildung, Migration und der Integration Älterer in die Arbeitswelt. 

Cawa Younosi: Bildung und Ausbildung sind der Schlüssel zur Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands. Bereits in der ersten Klasse entscheidet sich, ob die soziale Herkunft eines Kindes sein Leben bestimmt oder ob es sein Potenzial entfalten kann. Doch eigentlich ist es da schon zu spät. Deswegen fordere ich eine allgemeine Kindergartenpflicht, damit alle Kinder Deutsch lernen, Feinmotorik ausbilden, Sport machen und ihr Sozialverhalten üben können. Außerdem plädiere ich für eine Ausbildungs- oder Abschlusspflicht. Wir haben zu viele Menschen ohne Berufsausbildung. Und wir drängen viele Migranten in den Niedriglohnbereich. Wir sollten uns nicht nur darum kümmern, dass die Menschen so schnell wie möglich Deutsch lernen und Integrationskurse besuchen. Sie sollten vielmehr auch eine Ausbildung beziehungsweise einen Abschluss machen müssen. Das würde allen viel abverlangen, aber drei oder vier Jahre später hätten wir ausgebildete Fachkräfte statt Millionen Menschen im Niedriglohnbereich ohne Berufsabschluss.  

Zum Thema ältere Arbeitnehmer: Dass wir Menschen über 50 Jahren kaum noch zutrauen, Neues zu lernen und Leistung zu bringen, ist grotesk. Das ist genauso eine Potenzialverschwendung wie Altersteilzeit und Frühverrentungen einzusetzen, um Arbeitsplätze abzubauen. All diese Menschen aus dem Erwerbsleben zu drängen, weil sie vermeintlich zu viel kosten, ist grob fahrlässig. Wir sollten Menschen ermutigen, so lange wie möglich zu arbeiten, denn Arbeit bedeutet auch Inklusion. Der Staat sollte das unterstützen, zum Beispiel indem er Unternehmen, die Menschen über 60 Jahren weiter beschäftigen oder sogar neu einstellen, bei Sozialabgaben oder Steuern subventioniert.


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Schlagworte zum Thema:  Performance-Management, Weiterbildung, Ausbildung