KI-Pionier Precire steht vor dem Aus
Das KI-Startup Precire, das vor acht Jahren unter dem Namen Psyware gegründet wurde, hatte große Pläne. Die drei Gründer Dirk Gratzel, Mario Reis und Christian Greb hatten sich in der Personalberatung kennengelernt, in der sie Fußballvereine zu Fragen der Personaldiagnostik berieten. Im Umfeld der Sportpsychologie interessierten sie sich für die Frage, wie durch die Ansprache des Trainers die Motivation und Leistung von Sportlern verbessert werden kann.
Ihre Gründungsidee war ein eignungsdiagnostisches Verfahren, das auf Sprachanalyse basierte. "Zur Dekodierung der menschlichen DNA braucht es eine Haarwurzel, zur Erfassung der psychologischen Merkmale eines Menschen benötigen wir zehn Minuten Gespräch", erläuterte Dirk Gratzel im Jahr 2015 vor der Presse den Anspruch seines neuen Verfahrens, mit dem er und seine Mitstreiter den Markt der Eignungsdiagnostik aufrollen wollten. Die Lösung hatte alles, was in die Zeit passte: sie war datenbasiert, interdisziplinär und baute auf künstliche Intelligenz.
Precire: Markteinführung mit Hindernissen
Die Gründer formulierten hohe Ansprüche, versäumten es aber, in der Aufbauphase ihr Produkt ausreichend von externen Wissenschaftlern evaluieren zu lassen und in den Dialog mit den führenden Vertretern der Eignungsdiagnostik zu treten. Die Folge: Bei der Markteinführung des Produkts bekamen sie heftig Gegenwind, es kam zu hitzigen Debatten. Das angesehene Diagnostik- und Testkuratorium der Föderation Deutscher Psychologenvereinigungen untersuchte "Precire Jobfit" und kam zu dem Urteil, dass die Aussagen wissenschaftlich nicht ausreichend evaluiert sind. Ein vernichtendes Urteil zu einem Verfahren, das den Anspruch hat, zuverlässige Aussagen zur Persönlichkeit von Führungskräften zu machen. Die Firma bekam "Ehrungen", die wenig schmeichelhaft waren, beispielsweise den "Big Brother Award".
Neuausrichtung von Precire unter Thomas Belker
Die Firmengründer, die über die Jahre Millionenbeträge zur Finanzierung einsammeln konnten, befanden sich schon 2018 in einer Sackgasse. Die Talanx-Gruppe stieg damals als Hauptaktionär von Precire Technologies ein und berief zum 1. Mai 2019 mit Thomas Belker einen neuen CEO - die Gründer waren entmachtet. Der renommierte HR-Experte Belker, zuvor Personalvorstand von Talanx, erkannte die schwierige Situation, suchte den Dialog mit den Kritikern und richtete die Firma neu aus. "Wir wollen das kommunikative Miteinander in Unternehmen verbessern", formulierte er im Interview mit dem Personalmagazin als neue Vision des Unternehmens.
Die Aufgabe für Belker war gewaltig: Er musste nicht nur die Unternehmenskultur verändern und am Markt für Vertrauen werben, sondern auch ein neues Produkt schaffen. Mit "Precire Impact" entwickelte er einen digitalen Kommunikationsmanager, der Menschen helfen sollte, ihr Sprachverhalten mit Blick auf den Empfänger zu analysieren und zu verbessern. Die Lösung wurde als Addin für Microsoft Office und als App angeboten. "Um solche Lösungen in den Markt zu bringen, braucht man Zeit und die Bereitschaft der Kunden, sich mit den Themen zu beschäftigen. Nach Ausbruch von Covid-19 war das schwierig", schildert Belker rückblickend die Situation.
Fehlende Skalierbarkeit wird zum Problem
Es war aber nicht nur die Zeit, die Belker fehlte. Auch die fehlende Skalierbarkeit der KI-Anwendung in Unternehmensprojekten wurde zum Problem. "Precire hat spannende Anwendungen, die funktionieren. Sie waren aber nicht ausreichend skalierbar", erläutert Belker und ergänzt: "Bei jedem Projekt entstanden hohe Aufwände bei Precire wie auch beim Kunden. Die KI muss ständig mit neuen Daten gefüttert werden und es müssen die strengen Anforderungen des Datenschutzes berücksichtigt werden. Das ist grundsätzlich möglich, aber in Zeiten von Corona fehlte dafür die Bereitschaft der Kunden."
Precire-Investor zieht sich zurück
Der Talanx-Gruppe fehlte am Ende der Glaube an das Geschäftsmodell, als sich Bestandskunden zurückzogen. Eine Sprecherin begründet den Ausstieg wie folgt: "Eine für den dauerhaften wirtschaftlichen Erfolg von Precire erforderliche Skalierbarkeit des Produktes war im aktuellen Marktumfeld nicht möglich. Infolge der anhaltenden Coronakrise ist die Nachfrage und Zahlungsbereitschaft der Kunden deutlich eingebrochen. Dies hat die nunmehr getroffene Entscheidung, nicht weiter in Precire zu investieren, unumgänglich gemacht."
Thomas Belker blickt auf "knapp zwei intensive Jahre" in einem Startup-Umfeld zurück, bedauert seine Entscheidung aber nicht, eine CHRO-Funktion zugunsten eines Startups verlassen zu haben. "Das war eine spannende Zeit", sagt Belker, der seine Erfahrungen für seine berufliche Neuorientierung mitnehmen will. Seine Rolle als Liquidator hat Belker an Christian Greb, einen der Gründer, übergeben. Dieser wickelt derzeit bestehende Verträge ab und sucht nach einem Ausweg. Greb erklärt: "Die Gründer haben die Anteile zurück erworben. Wir sind momentan dabei, eine zukunfts- und tragfähige Lösung für den Erhalt der Technologie zu finden. Die Gespräche dazu laufen und wir hoffen auf einen zeitnahen Abschluss dieser." Die Firma ist am Ende, der Glaube der Gründer an ihre Technologie offenbar noch nicht.
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