EuGH zu Gerichtszuständigkeit bei Kindesentführung in Drittstaat

Wird ein Kind außer Landes gebracht, stellt sich die Frage nach dem zuständigen Gericht bezüglich einer Rückführung. Das Gericht des Mitgliedstaates, in dem es seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, bevor es widerrechtlich in einen Drittstaat verbracht wurde, bleibt im Rechtsstreit über die elterliche Verantwortung zeitlich unbegrenzt zuständig – so die Schlussanträge des Generalanwalts, denen der EuGH in aller Regel folgt.

In dem verhandelten Fall geht es um ein drei Jahre altes Mädchen, das die britische Staatsangehörigkeit besitzt. Die Eltern sind indische Staatsangehörige und haben eine Aufenthaltserlaubnis für Großbritannien. Ihnen steht die elterliche Sorge gemeinsam zu.

Die Mutter verbrachte die Tochter ohne Zustimmung des Vaters nach Indien zu deren Großmutter und kehrte selbst nach Großbritannien zurück. Der Vater, der seine Tochter seit geraumer Zeit nicht gesehen hatte, begehrte, dass sie künftig bei ihm lebt bzw. dass er zumindest Umgang mit ihr hat.

EuGH soll vorab über Gerichtszuständigkeit nach Brüssel-IIa entscheiden

Der in Großbritannien mit der Sache befasste High Court of Justice legte die Sache dem EuGH zur Vorabentscheidung über die Frage vor, welches Gericht nach der Brüssel-IIa-Verordnung zuständig ist. Der Generalanwalt ist der Ansicht, dass das Gericht in Großbritannien, wo das Kind vor seiner Entführung den gewöhnlichen Aufenthalt hatte, zuständig ist, selbst wenn das Kind inzwischen in einem Drittstaat den gewöhnlichen Aufenthalt begründet hat. Er empfahl dem EuGH, entsprechend zu entscheiden.

Zur Begründung nimmt der Generalanwalt Bezug auf die Regelung in Art. 10 der Brüssel-IIa-Verordnung. Danach bleibt bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes das Gericht in dem Mitgliedstaat zuständig, in dem das Kind unmittelbar zuvor seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und zwar solange, bis das Kind in einem anderen Mitgliedstaat seinen gewöhnlichen Aufenthalt begründet hat.

Brüssel-IIa regelt auch Rechtsverhältnisse mit Bezug zu einem Drittstaat

Erwähnt werden in der Brüssel-IIa-Verordnung zwar nur die Mitgliedstaaten, wozu Indien als Drittstaat nicht gehört. Rechtsverhältnisse, die – wie hier – einen Bezug zu einem Drittstaat haben, werden aber jedenfalls insoweit geregelt, als dass dadurch nicht die Zuständigkeit der Gerichte des Drittstaates begründet werden soll. Dass das Kind vorliegend bereits seinen gewöhnlichen Aufenthalt in dem Drittstaat erlangt hat, ist unerheblich, da Art. 10 ja nur darauf abstellt, dass der gewöhnliche Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat und nicht in einem Drittstaat begründet wird.

Wohle des Kindes spricht gegen Zuständigkeit des Gericht des Drittstaates

Die Zusammenarbeit mit einem Drittstaat und das Vertrauen zu diesem Staat sei nicht in gleicher Weise gewährleistet wie unter den Mitgliedstaaten. Insbesondere im Falle der Entführung eines Kindes, das eine Unionsbürgerschaft besitzt, solle daher  zum Wohle des Kindes nicht das Gericht des Drittstaates die Zuständigkeit erlangen.

Vielmehr müsse dem Kind, das Opfer einer widerrechtlichen Entführung geworden ist, die Möglichkeit erhalten bleiben, die Frage der elterlichen Verantwortung durch ein mitgliedstaatliches Gericht prüfen zu lassen. Dies entspräche auch dem mit der Regelung in Art. 10 der Verordnung verfolgten Zweck, Kindesentführungen zu vermeiden.

(EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts vom 23.02.2021, C-603/20).

Norm: Art. 10 Brüssel IIa-VO

Zuständigkeit in Fällen von Kindesentführung

Bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes bleiben die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, so lange zuständig, bis das Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat erlangt hat und

    a) jede sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle dem Verbringen oder Zu­rückhalten zugestimmt hat

    oder

    b) das Kind sich in diesem anderen Mitgliedstaat mindestens ein Jahr aufgehalten hat, nachdem die sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle seinen Aufenthaltsort kannte oder hätte kennen müssen und sich das Kind in seiner neuen Umgebung eingelebt hat, sofern eine der folgenden Bedingungen erfüllt ist:

        i) Innerhalb eines Jahres, nachdem der Sorgeberechtigte den Aufenthaltsort des Kindes kannte oder hätte kennen müssen, wurde kein Antrag auf Rückgabe des Kindes bei den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats gestellt, in den das Kind verbracht wurde oder in dem es zurückgehalten wird;

        ii) ein von dem Sorgeberechtigten gestellter Antrag auf Rückgabe wurde zurückgezogen, und innerhalb der in Ziffer i) genannten Frist wurde kein neuer Antrag gestellt;

        iii) ein Verfahren vor dem Gericht des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, wurde gemäß Artikel 11 Absatz 7 abgeschlossen;

        iv) von den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, wurde eine Sorgerechtsentscheidung erlassen, in der die Rückgabe des Kindes nicht angeordnet wird.

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