Der beklagte Landkreis ist Träger der öffentlichen Jugendhilfe und hat damit nach der Entscheidung des OLG Frankfurt jedem anspruchsberechtigten Kind, für welches rechtzeitig Bedarf angemeldet wurde, einen angemessenen Kita-Platz nachzuweisen. Geschieht dies nicht, besteht laut OLG ein Anspruch auf Schadenersatz für den erlittenen Verdienstausfall.
Wichtig für den Anspruch war die rechtzeitige Bedarfsanmeldung
Unmittelbar nach der Geburt ihres Kindes hatte die Kindesmutter ihren Bedarf auf Zurverfügungstellung eines Betreuungsplatzes bei der zuständigen Gemeinde angemeldet. Die Klägerin hatte im Rahmen ihrer Anmeldung eine Wunscheinrichtung für die Betreuung angegeben und im Anmeldeformular zusätzlich angekreuzt, dass sie auch mit allen sonstigen vorhandenen Kinderbetreuungseinrichtungen und Kindertagespflegestätten in zumutbarer Entfernung einverstanden sei.
Nur Betreuungsplatz mit längeren Fahrzeiten zum Wohn- und Arbeitsplatz angeboten
Der beklagte Landkreis hatte der Klägerin daraufhin einen Betreuungsplatz in der hessischen Stadt Offenbach nachgewiesen. Die Fahrzeit vom Wohnort der Kindesmutter zum Betreuungsplatz beträgt bei normaler Verkehrsbelastung zu den üblichen Bring- und Abholzeiten 30 Minuten, die Fahrzeit zu ihrem Arbeitsplatz 56 Minuten.
Kindesmutter gab zeitweise ihre Arbeit auf
Diese Fahrzeiten hielt die Klägerin für nicht zumutbar. Sie sah sich in dem Zeitraum März bis Oktober 2020 nicht in der Lage, ihrer Arbeit nachzugehen und erlitt hierdurch einen nicht unerheblichen Verdienstausfall. Diesen wollte sie aufgrund der nach ihrer Auffassung unzureichenden Zuweisung eines Betreuungsplatzes von dem beklagten Landkreis ersetzt erhalten.
Klage war überwiegend erfolgreich
In erster Instanz hat das LG der Klage bis zu einem Betrag von 18.000 Euro stattgegeben. Das OLG hat den Betrag auf 23.000 Euro aufgestockt. Nach Auffassung des OLG hat der Beklagte seine gemäß § 24 Abs. 2 SGB VIII bestehende Amtspflicht zur unbedingten Gewährleistung eines Betreuungsplatzes verletzt.
- Als Träger der Jugendhilfe sei der Landkreis verpflichtet, sicherzustellen, dass eine dem Bedarf entsprechende Anzahl von Betreuungsplätzen vorgehalten wird (BVerWG, Urteil v. 26.10.2016, 5 C 19/16).
- Dabei dürfe der Landkreis sich nicht auf die von den Gemeinden bereits geschaffenen und vorgegebenen Kapazitäten beschränken.
- Der Landkreis könne sich auch nicht darauf zurückziehen, er sei lediglich zu einer Bedarfsplanung verpflichtet, auf deren Grundlage dann die Gemeinden in eigener Verantwortung die entsprechenden Kapazitäten bereitzustellen hätten.
- Den Landkreis treffe vielmehr die Gesamtverantwortung, eine ausreichende Anzahl von Betreuungsplätzen selbst zu schaffen oder durch geeignete Dritte bereitzustellen.
Unbedingter Anspruch auf Betreuungsplatz vom ersten bis zum dritten Lebensjahr
Die Verpflichtung des Landkreises zur Bereitstellung eines Betreuungsplatzes leitete das OLG unmittelbar aus § 24 SGB VIII ab. Nach dieser Vorschrift habe jedes Kind, das das erste Lebensjahr vollendet hat, bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres Anspruch auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder in einer Kindertagespflege. Nach Vollendung des dritten Lebensjahres des Kindes besteht der Anspruch allerdings nicht mehr (OLG Frankfurt, Urteil v. 17.5.2018, 1 U 171/16).
Bedarfsanmeldung der Kindesmutter war ordnungsgemäß
Dieser Bereitstellungsverpflichtung ist der Landkreis nach der Bewertung des OLG nicht nachgekommen. Der Landkreis habe dem Sohn der Klägerin keinen zumutbaren Betreuungsplatz zur Verfügung gestellt, obwohl diese ihren Bedarf rechtzeitig angemeldet habe. Sie habe auf dem Anmeldeformular auch deutlich gemacht, dass sie grundsätzlich alle in zumutbarer Entfernung vorhandenen Kinderbetreuungseinrichtungen akzeptieren würde. Von Rechts wegen sei die Gemeinde zur Weiterleitung solcher Bedarfsmeldungen an den Landkreis verpflichtet. Die Beklagte sei daher entgegen der Auffassung des Landkreises nicht verpflichtet gewesen, ihren Bedarf außer bei der Gemeinde auch beim Landkreis unmittelbar anzumelden.
Landkreis vermisst eigene Bemühungen der Klägerin
Der nachgewiesene Betreuungsplatz in Offenbach ist nach Auffassung des OLG nicht ausreichend, da er nicht dem konkreten individuellen Bedarf der Kindesmutter in zeitlicher und räumlicher Hinsicht entspräche. Die Fahrzeit von 30 Minuten vom Wohnort und sogar 56 Minuten vom Arbeitsort sei deutlich zu lang. (Nach einer Entscheidung des VG Münster darf ein zumutbarer Betreuungsplatz nicht mehr als 15 Minuten von der elterlichen Wohnung entfernt sein, VG Münster, Beschluss v. 20.7.2017, 6 L 1177/17).
Landkreis war zu aktivem Tun verpflichtet
Der beklagte Landkreis hatte vor Gericht eingewandt, es seien auch darüber hinaus noch freie Plätze vorhanden gewesen, auch in zumutbarer Entfernung. Dies habe sich im Nachhinein herausgestellt. Hätte die Klägerin selbst rechtzeitig nachgeforscht, so hätte sie einen solchen Platz erhalten können.
Dieses Argument ließ das OLG nicht gelten. Freie Plätze in Betreuungseinrichtungen oder bei Tagespflegepersonen in zumutbarer Entfernung hätte das Landratsamt der Klägerin nach der Entscheidung des OLG aktiv nachweisen müssen. Die Klägerin sei ihrerseits nicht verpflichtet gewesen, in Eigeninitiative Kontakt mit allen möglichen Vermittlungsstellen im Landkreis aufzunehmen, vielmehr sei der beklagte Landkreis verpflichtet gewesen, aktiv zu handeln.
Verletzung der Bereitstellungspflicht löst Schadensersatzansprüche aus
Das OLG verwies auf die gefestigte Rechtsprechung, dass im Fall einer Verletzung dieser Verpflichtung der öffentliche Träger der Jugendhilfe zum Schadensersatz infolge entstandenen Verdienstausfalles verpflichtet sein kann (BGH, Urteile v. 20.10.2016, III ZR 278/15, 302/15 u. 303/15; OLG Brandenburg, Beschluss v. 3.4. 2019, 2 W 33/18; LG Leipzig, Urteil v. 2.2.2015, 7 O 1455/14).
Schadenersatz aus Amtspflichtverletzung
Mit der unterlassenen Zurverfügungstellung eines angemessenen Betreuungsplatzes habe die Beklagte ihre Amtspflichten verletzt und sei gemäß § 839 BGB, Art. 34 GG, §§ 24 Abs. 2 SGB VIII, 16 Abs. 2 Satz 1 SGB I zum Ersatz des daraus entstandenen Schadens verpflichtet. Dieser habe sich in Form des Verdienstausfalls verwirklicht, der der Klägerin dadurch entstanden sei, dass sie zeitweise ihrer Arbeit nicht habe nachgehen können.
Landkreis hat Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt
Der beklagte Landkreis akzeptiert das Urteil nicht und hat wegen der Nichtzulassung der Revision Nichtzulassungsbeschwerde beim BGH eingereicht. Das Verfahren wird dort unter dem Aktenzeichen III ZR 91/21 geführt.
(OLG Frankfurt, Urteil v. 28.5.2021, 13 U 436/19).
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