Divergenzen am BGH zur fiktiver Schadensberechnung im Kauf- und Werkvertragsrecht
Nach der bis dato geltenden Rechtsprechung des Senats hatte der Besteller bei einer mangelhaften Werkleistung die Möglichkeit, im Falle des Vorliegens der Voraussetzungen für die Geltendmachung von Schadenersatz die Zahlung in Höhe der fiktiven Mängelbeseitigungskosten zu verlangen, selbst wenn diese den Minderwert im Vermögen des Bestellers überstiegen.
Begründet wurde dies damit, dass bereits der Mangel des Werks, unabhängig von dessen Beseitigung, der Schaden sei und zwar in Höhe dieser Kosten.
Bekehrter BGH: Mangel ist zunächst nur ein Leistungsdefizit
Die fiktive Schadensberechnung, die auch in der Literatur umstritten war, führte häufig zu einer Überkompensation und damit zu einer nach allgemeinen schadensrechtlichen Grundsätzen nicht gerechtfertigten Bereicherung des Bestellers.
Die Gefahr dieser Überkompensation widersprach nach Auffassung des VII. Senats dem Grundsatz der Schadensberechnung nach dem tatsächlich entstandenen Vermögensverlust, berechnet nach der Differenzmethode.
Alte Rechtsprechung gilt für ab Januar 2002 geschlossene Werkverträge nicht mehr
Daher hält der VII. Senat an seiner alten Rechtsprechung für ab dem Januar 2002 geschlossene Werkverträge nicht mehr fest. Der Besteller hat nun folgende Möglichkeiten:
- Der Besteller, der sein Werk behält und den Mangel nicht beseitigen lässt, kann im Wege der Vermögensbilanz die Differenz des tatsächlichen Wertes der mangelhaften Sache zu dem hypothetischen Wert der mangelfreien Sache verlangen.
- Hat er die Sache veräußert, ohne eine Mängelbeseitigung vorgenommen zu haben, kann er den Schaden nach dem konkreten Mindererlös wegen des Mangels bemessen.
- Der Schaden kann auch in Anlehnung an § 634 Nr. 3, § 638 BGB in der Weise bemessen werden, dass ausgehend von der für das Werk vereinbarten Vergütung der Minderwert des Werkes wegen des nicht beseitigten Mangels nach § 287 ZPO geschätzt wird. Maßstab wäre hier die durch den Mangel des Werks erfolgte Störung des Äquivalenzinteresses.
- Lässt der Besteller den Mangel beseitigen, kann er die von ihm aufgewandten Mängelbeseitigungskosten als Schaden ersetzt verlangen. Vor Begleichung der Kosten kann er die Befreiung von den zur Mängelbeseitigung eingegangenen Verbindlichkeiten verlangen.
- Zusätzlich hat der Besteller, der den Mangel beseitigen will, grundsätzlich weiterhin das Recht, einen Vorschuss gem. § 634 Abs. 2, § 637 BGB zu verlangen.
Änderungen gelten auch für Architektenverträge und für Verträge nach der VOB/B
Die Änderungen sind auch auf Verträge, welchen die VOB/B zugrunde liegen, anwendbar. Zudem soll eine Vorschussklage nach den Karlsruher Richter nun auch gegen Architekten möglich sein:
„Nach § 634 Nr. 2, § 637 BGB werden dem Besteller im Verhältnis zu dem mangelhaft leistenden Bauunternehmer die Nachteile und Risiken einer Vorfinanzierung durch die Gewährung eines Vorschussanspruchs abgenommen. Diese für das Werkvertragsrecht getroffene Wertung des Gesetzgebers ist auch für Planungs- oder Überwachungsfehler des Architekten, die sich im Bauwerk bereits verwirklicht haben, zu berücksichtigen“,
so der BGH (Urteile vom 21.06.2018 - VII ZR 173/16 und vom 22.02.2018 - VII ZR 46/17).
Kaufvertragssenat will an fiktiver Schadensberechnung festhalten
Diese grundlegende Änderung der Rechtsprechung des für Bausachen zuständigen VII. Senats sagt dem für Kaufverträge zuständigen V. Senat nicht zu, hatte er doch in der Vergangenheit die Schadensberechnung nach fiktiven Mängelbeseitigungskosten zugelassen und die Begründung hierfür auf die nun nicht mehr gültige Rechtsprechung des VII. Senats im Werkvertragsrecht gestützt.
Im Rahmen eines beim V. Senat anhängigen Rechtsstreits, bei dem es um fiktive Mängelbeseitigungskosten für aufgetretene Feuchtigkeitsschäden bei einer gekauften Eigentumswohnung ging, sah der V. Senat sich infolge der geänderten Rechtsprechung des VII. Senats an der Zuerkennung der geltend gemachten fiktiven Mängelbeseitigungskosten gehindert und richtete daher an den VII. Senat die mit kritischen Anmerkungen zur geänderten Rechtsprechung versehene Frage, ob der VII. Senat an seiner geänderten Rechtsprechung zukünftig wirklich festhalten wolle.
Klare Antwort des VII. Senats
Die Antwort des VII. Senats fiel überraschend harsch aus. Der VII. Senat erteilte dem V. eine umfassende Rechtsbelehrung und hielt die Anfrage im Ergebnis für überflüssig. Entgegen der Auffassung des V. Senats sei ein Gleichlauf der Schadensberechnungen im Kauf- und Werkvertragsrecht im Gesetz nicht vorgegeben.
- Verschiedene schuldrechtliche Besonderheiten unterschieden das Werkvertragsrecht deutlich vom Kaufvertragsrecht.
- Der VII. Senats hält es aufgrund der grundsätzlichen Unterschiede der beiden Vertragstypen geradezu für erforderlich, bei der Schadensberechnung die Besonderheiten der jeweiligen Vertragstypen zu berücksichtigen.
Entgegen der Auffassung des V. Senats habe der VII. Senat die Änderung seiner Rechtsprechung auch nicht „vordergründig“ – so ein Vorwurf in der Anfrage - auf werkvertragliche Besonderheiten gestützt.
Schadensberechnung erfordert Berücksichtigung des Vertragstyps
Bereits die Schadenersatzregeln des allgemeinen Schuldrechts lassen nach Auffassung des VII. Senats Raum für eine Berücksichtigung der Besonderheiten der jeweiligen Vertragstypen. Die im allgemeinen Schuldrecht kodifizierten Regeln der §§ 249 ff BGB dienten durch den Grundsatz der Naturalrestitution dem Integritätsinteresse des Gläubigers, die §§ 280 ff BGB dienten dem Leistungsinteresse, ohne hierbei die Art der Ermittlung der Schadenshöhe vorzugeben. Maßgeblich für die Ermittlung der Schadenshöhe seien daher die gesetzlichen Regelungen des Besonderen Schuldrechts zum jeweiligen Vertragstyp.
Schadenersatz zur lukrativen Einnahmequelle verkommen
In diesem Kontext sei zu berücksichtigen, dass der Besteller beim Werkvertrag im Unterschied zum Kaufvertrag einen besonderen Schutz dadurch genieße, dass er gemäß §§ 634 Nr. 2, 637 Abs. 3 BGB die Möglichkeit habe, im Rahmen einer Vorschussklage die voraussichtlichen Kosten einer Mängelbeseitigung vorab geltend zu machen, ohne in Vorlage treten zu müssen.
Das Rechtsinstrument einer fiktiven Schadensberechnung sei hiernach zum Schutz des Gläubigers weniger erforderlich als im Kaufvertragsrecht. Umgekehrt habe sich in der Vergangenheit gezeigt, dass Bauherrn die Möglichkeit der fiktiven Schadensberechnung als außerordentliche Geldquelle genutzt hätten zum Ausgleich eines Schadens, mit dem sie ohne weiteres hätten leben können und mit dem sie nach Zahlung des fiktiven Schadenersatzes häufig dann auch gut leben würden. Diese Form der Überkompensation gehe weit über das vertragliche Leistungsinteresse hinaus und sei nicht Sinn des Schadensersatzrechts.
Kommt es zu einer Entscheidung des Großen Zivilsenats?
Mit diesen rechtlichen Belehrungen erteilte der VII. Senat dem V. eine juristisch scharfe Abfuhr. Wie der V. Senat im aktuell anhängigen Fall weiter verfahren wird, bleibt abzuwarten. Grundsätzlich bestehen zwei Möglichkeiten: Entweder akzeptiert der V. Senat die rechtlichen Belehrungen und trifft eine eigenständige kaufrechtliche Entscheidung zum fiktiven Schadenersatz oder er hält daran fest, dass die Schadensberechnung im Kaufrecht und Werkvertragsrecht nach gleichen Grundsätzen zu erfolgen habe. In diesem Fall hätte er die Rechtsfrage dem Großen Zivilsenat zur Entscheidung vorzulegen. Auch das wäre ein außergewöhnlicher Schritt, denn in den vergangenen zehn Jahren hatte der Große Zivilsenat lediglich in einem Fall eine Streitfrage zwischen zwei Senaten zu entscheiden.
(BGH, Beschluss v. 8.10.2020, VII ARZ 1/20)
Praxishinweis
Die Auswirkungen der veränderten BGH-Rechtsprechung sind durchaus beachtlich. Da die bisherige Rechtsprechung ausdrücklich für Werkverträge (Bauverträge, Architektenverträge) ab dem Januar 2002 nicht mehr anwendbar ist, hat dies auch Auswirkungen auf bereits laufende Verfahren. Hier muss überlegt werden, ob man den Mangel nun doch beseitigen lässt und ggf. auf eine Vorschussklage umgestellt wird.
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