Rechtmäßige Polizeimaßnahmen können Schmerzensgeldansprüche auslösen
Nach der Abgabe eines Schusses aus einem fahrenden Pkw auf ein Döner-Restaurant in einem hessischen Ort führten die sofort eingeleiteten Fahndungsmaßnahmen eine Polizeistreife zu einem Tankstellengelände, auf dem die beiden Polizisten das mutmaßliche Tatfahrzeug entdeckten. Im Verkaufsraum der Tankstelle befanden sich zwei Personen, auf die die bis dto vorliegende grobe Personenbeschreibung passte.
Irrtümlich die falschen Verdächtigen festgenommen
Die Polizeibeamten gingen davon aus, dass es sich um die Tatverdächtigen handelte und riefen eine weitere Streife zur Verstärkung hinzu. Hierauf stürmten die Polizeibeamten den Tankstellenverkaufsraum. Sie vermuteten eine Schusswaffe im Besitz der Verdächtigen, forderten beide auf, die Hände hochzunehmen, brachten darauf die Verdächtigen zu Boden und legten ihnen Handschellen an. Dabei erlitt einer der Männer eine Schulterverletzung. Kurz darauf stellte sich heraus, dass die verdächtigen Personen mit der Schussabgabe nichts zu tun hatten.
Vorinstanzen lehnten Schmerzensgeld ab
Der Beteiligte, dessen Schulter verletzt worden war, forderte Schadenersatz und Schmerzensgeld. LG und OLG entsprachen seiner hierauf gerichteten Klage nur teilweise. Die Gerichte vertraten den Standpunkt, die Polizeibeamten hätten zu Recht unmittelbaren Zwang zur Durchsetzung der Identitätsfeststellung der Betroffenen gemäß § 163b Abs. 1 StPO angewendet. Vor diesem Hintergrund stünde dem Kläger ein Entschädigungsanspruch aus dem Gesichtspunkt der Aufopferung zu. Dieser Anspruch umfasse allerdings entsprechend der bisherigen obergerichtlichen Rechtsprechung nur Ansprüche auf Ausgleich des erlittenen materiellen Schadens. Ein Anspruch auf Zahlung von Schmerzensgeld bestehe demgegenüber nicht.
Bisher galt bei Aufopferung das Preußische Landrecht
Der BGH wich nun in seiner Entscheidung von seiner bisherigen Rechtsprechung ab. In einer Grundsatzentscheidung aus dem Jahr 1956 hatte der BGH die Ansicht vertreten, aus der Gesamtbetrachtung der Rechtsordnung folge, dass Ersatz für immaterielle Schäden im Rahmen des Aufopferungsanspruchs grundsätzlich nicht geschuldet werde. Der Aufopferungsanspruch habe sich gewohnheitsrechtlich aus §§ 74, 75 der Einleitung des Allgemeinen Landrechts für die preußischen Staaten vom 1. Juni 1794 entwickelt. Gemäß § 75 Einl ALR hatte der Staat denjenigen, welcher seine „besonderen Rechte und Vortheile dem Wohl des gemeinen Wesens aufzuopfern genöthigt wird, zu entschädigen“. Diese Vorschrift sah nach Auffassung des Senats nur den Ersatz materieller Schäden vor, was damit auch für den gewohnheitsrechtlich hieraus entwickelten Aufopferungsanspruch gelten müsse (BGH, Urteil v. 13.2.1956, III ZR 175/54). Diese Auffassung ist seither ständige Rechtsprechung.
BGH verlässt bisherige Rechtsprechungspraxis
In seiner jetzigen Entscheidung wies der Senat auf das „Zweite Gesetz zur Änderung schadensrechtlicher Vorschriften“ vom 19.7.2002 hin. Mit diesem Gesetz sei der Schmerzensgeldanspruch infolge der Änderung des § 253 BGB deutlich ausgeweitet worden. Damit habe der Gesetzgeber den Grundsatz des Allgemeinen Preußischen Landrechts, der dem Urteil vom 13.2.1956 noch zu Grunde gelegen habe, bewusst verlassen. Dies folge auch aus der bereits im Jahr 1971 eingeführten Änderung der Vorschriften über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen, nach denen für zu Unrecht erlittene Haft ebenfalls eine Entschädigung für immaterielle Schäden gewährt werde.
In vielen Bundesländern gelten spezialgesetzliche Regelungen
Ergänzend wies der Senat auf die Bestimmungen einer Vielzahl von Bundesländern hin, nach denen ohnehin schon bei rechtmäßigen präventiv-polizeilichen Maßnahmen Ersatz auch des immateriellen Schadens geschuldet werde, wenn es zur Verletzung des Körpers oder der Gesundheit eines Menschen komme.
Grundsatzentscheidung mit spürbaren Auswirkungen
Mit der Entscheidung des BGH können künftig Personen, die irrtümlich festgenommen oder sonst fälschlicherweise von einer polizeilichen oder sonstigen behördlichen Maßnahme erfasst wurden und hierdurch zu Schaden gekommen sind, bundesweit einen Ausgleich auch für immaterielle Schäden verlangen. Dies bedeutet im Ergebnis eine erhebliche Stärkung der Rechtsstellung von Bürgern, die durch staatliche Maßnahmen persönlich zu Schaden kommen.
(BGH, Urteil v. 7.9.2017, III ZR 71/17)
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