Auch bei Legal Tech gelten anwaltliche Organisationspflichten

Viele Kanzleien beschäftigen sich mit der Prozessautomatisierung durch neue Technologien, bekannt als „Legal Tech“. Wie der BGH nun bestätigt hat, gelten auch für die automatisierte Prozessführung von Massenverfahren keine anderen Organisationsregeln als für herkömmliche Verfahren.

Fristen müssen bei Einlegen der Berufung kontrolliert werden, um Fehler zu entdecken

In einem Massenverfahren ließ sich die Prozessbevollmächtigte eines Klägers die Berufungsbegründungsfrist schuldhaft verstreichen. Ihr Verhängnis: sie ließ sich vor der Fertigung der Berufungsbegründung keine Handakte vorlegen, auch von einer elektronischen Fristenkontrolle wurde abgesehen. Da die bearbeitende Anwältin die elektronische Handakte nicht selbst aufrief oder sich daraus einen Ausdruck vorlegen ließ, wurde übersehen, dass die Berufungsbegründungsfrist fälschlicherweise auf den 26.07.2019 statt auf den 26.06.2019 datiert war.

Keine Entlastung von Organisationspflichten wegen Einsatz von Legal Tech

Die Fristbearbeitung und Fristenkontrolle waren vollständig den Mitarbeitern der Sozietät übertragen. Auf eine eigenständige Überprüfung durch Anwälte wurde in der auf Massenverfahren spezialisierte Sozietät aber verzichtet. Die elektronische Aktenführung und der Einsatz von „Legal Tech“ sollten dabei zu einer „Entlastung“ führen, sodass bei der Berufungseinlegung eine Kontrolle weiterer Fristen – so die Argumentation der Sozietät – nicht möglich gewesen sei.

Im konkreten Fall basierte auch die wöchentlich ausgedruckte Fristenliste auf der elektronisch fehlerhaft eingetragenen Frist, sodass in der Woche, in der die Berufungsbegründung hätte eingehen müssen, die Frist nicht auf der Liste erschien. Dieses Verfahren war nach überzeugender Ansicht des BGH und der Vorinstanzen daher nicht geeignet, eine falsch berechnete oder fehlerhaft eingetragene Frist als solche zu identifizieren.

Weiterhin hohe Anforderungen an die Fristenkontrolle

Der BGH stellte fest, dass die bearbeitende Anwältin die Einlegung der Berufung aber hätte zum Anlass nehmen müssen, die weiteren Fristvermerke in der Handakte zu überprüfen. Hierfür muss sich ein Anwalt entweder die Papierakte vorlegen lassen oder das digitale Aktenstück einsehen.

Auch in Massenverfahren kein Verzicht auf Gegenkontrolle der Fristenbearbeitung

Somit treffen gerade auf Massenverfahren spezialisierte Sozietäten, die gefahrgeneigte routineartige Tätigkeiten ausführen, besondere Organisationsverpflichtungen, um Fehler rechtzeitig zu entdecken. Wird einem Anwalt im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Prozesshandlung die Akte vorgelegt, ist der Ablauf von weiteren Fristen eigenverantwortlich in der Handakte zu überprüfen.

Partei muss sich das Verschulden des Vertreters zurechnen lassen

Dass in Anwaltsbüros Fristen fehlerhaft eingetragen werden, kommt immer wieder vor. Für manche Fristen, wie z.B. die Berufungsbegründungsfrist, kann ein Fristversäumnis dazu führen, dass das Verfahren aus formalen Gründen – wegen Unzulässigkeit – verworfen und beendet wird. Die Partei, die die Frist versäumt, wird von der eigentlich vorzunehmenden Prozesshandlung ausgeschlossen (vgl. § 230 ZPO).

Die Entscheidung, ob ein Fristversäumnis zur Beendigung des Verfahrens führt oder eine so genannte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand möglich ist, hängt davon ab, ob die Partei ohne ihr Verschulden verhindert war, die Frist einzuhalten (vgl. § 233 ZPO). Dabei gilt, dass sich durch Anwälte vertretene Parteien die Versäumnisse ihrer Vertreter nach § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnen lassen müssen.

Im Sachverhalt, das dem hiesigen BGH-Beschluss zugrunde lag, muss sich der Berufungskläger das Verschulden seiner Anwältin zurechnen lassen.

(BGH, Beschluss v. 23.6. 2020, VI ZB 63/19).

Anmerkung: Rechtsmittelbegründungsfristen eigenverantwortlich überprüfen

Für die Praxis bedeutet dies, dass Anwälte und Anwältinnen den Ablauf von Rechtsmittelbegründungsfristen eigenverantwortlich zu überprüfen haben, wenn ihnen im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Prozesshandlung die Akte vorgelegt wird. Dies gilt insbesondere dann, wenn in der Angelegenheit ein neuer Schriftsatz verfasst wird.

Wer also eine Berufung einlegt, muss die Berufungsbegründungsfrist kontrollieren, um eine falsch berechnete oder fehlerhaft eingetragene Frist rechtzeitig als solche zu identifizieren.



Schlagworte zum Thema:  Legal Tech, Kanzleiorganisation, Fristversäumnis