Posttraumatisierung des Opfers sexueller Gewalt kann audiovisuelle Vernehmung erforderlich machen
Die Beschwerdeführerin ist ein mutmaßliches Opfer des Angeklagten, dem in einem Strafverfahren Sexual- und Körperverletzungsdelikte zur Last gelegt werden. Zur Begründung verweist das BVerfG auf die Gefahr einer irreparablen Rechtsbeeinträchtigung, falls die Vernehmung im Sitzungssaal tatsächlich, wie von der Beschwerdeführerin geltend gemacht, zu einer Retraumatisierung aufgrund der unmittelbaren Konfrontation mit dem Angeklagten führt.
K.o.-Tropfen eingesetzt?
Die Staatsanwaltschaft wirft dem Angeklagten vor, Frauen in mehreren Fällen - so auch der beschwerdeführende Zeugin - bei Verabredungen heimlich bewusstseinstrübende Substanzen in ihre Getränke gemischt und mit ihnen gegen ihren Willen den Geschlechtsverkehr vollzogen zu haben. Der Angeklagte streitet die Vorwürfe mit der Begründung ab, der Geschlechtsverkehr sei jeweils einvernehmlich erfolgt. Die Beschwerdeführerin hat beantragt, die Zeugenvernehmung gemäß § 247a Abs. 1 StPO audiovisuell durchzuführen, da anderenfalls die dringende Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils für ihr psychisches Wohl bestehe.
Geschehen verdrängt
Sie habe das Geschehen verdrängt und einem emotionalen Zugang verschlossen. Bereits die Zeugenvernehmung durch die Polizei habe ihr Leben „aus den Bahnen“ geworfen. Erste therapeutische Fortschritte seien gefährdet, wenn sie erneut mit dem Angeklagten im selben Raum konfrontiert werde oder in der Atmosphäre einer Hauptverhandlung - selbst bei Ausschluss der Öffentlichkeit - das angeklagte Tatgeschehen in unmittelbarer Gegenwart der im Strafverfahren notwendig Anwesenden schildern müsse. Dies komme einem erneuten Durchleben der Tat mit Zuschauern gleich.
Gericht hätte weiteren Sachverständigenbeweis einholen müssen
Das Landgericht lehnte den Antrag durch Beschluss ab. Die Beschwerdeführerin hat hiergegen Verfassungsbeschwerde erhoben und diese mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbunden. Nach § 32 Abs. 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Die Verfassungsbeschwerde ist nach Einschätzung des Gerichts weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet.
Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit verkannt?
Es erscheint dem Gericht allerdings nicht ausgeschlossen, dass das Landgericht Bedeutung und Tragweite des Grundrechts der Beschwerdeführerin auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) verkannt hat. „Vorliegend spricht vieles dafür, dass das Landgericht seine Abwägungsentscheidung zu Gunsten der Interessen des Angeklagten und der Strafrechtspflege getroffen hat, ohne das entgegenstehende Interesse der Beschwerdeführerin überhaupt zuverlässig gewichten zu können.
Gefahr längerfristiger seelischer Destabilisierung
Angesichts der konkreten Anhaltspunkte für eine posttraumatische Belastungsstörung in Gestalt eines ärztlichen Befundberichts und einer Stellungnahme des Frauen- und Kinderschutzhauses, in welchen zudem ausdrücklich auf die im Falle der unmittelbaren Vernehmung bestehende Gefahr der ,längerfristigen seelischen Destabilisierung` hingewiesen worden ist, hätte sich das Landgericht wohl nicht mehr darauf beschränken dürfen, auf die nach seiner Auffassung nicht eindeutig festgestellte Gefahr für die seelische Gesundheit der Beschwerdeführerin zu verweisen“, so die Karlsruher Verfassungsrichter.
Das Gericht war deshalb gehalten, durch ergänzende Befragung der behandelnden Ärztin oder Zuziehung eines Sachverständigen unter Berücksichtigung der individuellen Belastbarkeit der Beschwerdeführerin bestehende Zweifel über das Gewicht der drohenden Nachteile und den Grad der Gefahr ihrer Verwirklichung auszuräumen, um seine Abwägungsentscheidung auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage vornehmen zu können.
Irreparable Rechtsbeeinträchtigungen vermeiden
Auch der gerügte Verstoß gegen das Verbot objektiver Willkür (Art. 3 Abs. 1 GG) erscheint nach dem Vorbringen der Beschwerdeführerin nicht offensichtlich ausgeschlossen. Sollte eine unzureichende Ausstattung mit technischen Sachmitteln ermessenslenkend auf die Entscheidung des Gerichts eingewirkt haben, läge hierin eine sachfremde Erwägung, die unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar wäre, ohne dass es auf ein schuldhaftes Handeln des Gerichts ankäme.
Die Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde stellen sich - abhängig von den konkreten Umständen - insoweit als offen dar. Im Rahmen der somit erforderlichen Abwägung überwiegen nach Einschätzung des Gerichts die Gründe für den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, könnte die Vernehmung der Beschwerdeführerin in Anwesenheit des Angeklagten und der notwendig Anwesenden in der Zwischenzeit vollzogen werden.
Gegenüber dieser Gefahr einer irreparablen Rechtsbeeinträchtigung wiegen die Nachteile, die entstünden, wenn eine einstweilige Anordnung erlassen würde, die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache aber keinen Erfolg hätte, weniger schwer.
(BVerfG, Beschluss vom 27..02.2014, 2 BvR 261/14).
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