Feststellungen im Prozess gegen Gesamtschuldner nicht bindend für den Innenausgleich
Ein zur Tatzeit 13-Jähriger und der Haftpflichtversicherer einer psychiatrischen Klinik mussten sich gemeinsam als einfache Streitgenossen vor Gericht verantworten.
Täter und Haftpflichtversicherer zur gesamtschuldnerischen Zahlung verurteilt
Der Junge hatte im Jahr 2006 in der Klinik seinen ebenfalls minderjährigen Zimmergenossen vergewaltigt. Er wurde zu dieser Zeit wegen seiner Verhaltensstörungen stationär behandelt. Anfang 2013 verurteilte das LG Mühlhausen den inzwischen 20jährigen und den Haftpflichtversicherer gesamtschuldnerisch zur Zahlung von 4.000 Euro Schmerzensgeld an das Opfer (§§ 823 ff. BGB).
Feststellung der Einsichtsfähigkeit und Schuld des Minderjährigen
Ein Minderjähriger zwischen dem 11. und 18. Lebensjahr wird nur dann zur Verantwortung gezogen, wenn er die sog. intellektuelle Einsichtsfähigkeit hat. Entsprechend seiner eigenen Einlassung in der mündlichen Verhandlung hatten die mit dem Fall befassten Richter keinerlei Zweifel daran, dass sich der seinerzeit 13jährige Junge seines Tuns und seiner Verantwortung bewusst war (§ 828 Abs.3 BGB). Dementsprechend bejahten sie seine Schuld und Haftung neben dem Versicherer, dessen Klinik ihre Aufsichtspflicht verletzt hatte. Nach Rechtskraft des Urteils beglich der Haftpflichtversicherer die 4.000 Euro Schmerzensgeld vollständig.
Berufungsinstanz bezieht sich auf Feststellungen des Vorprozesses
Der Folgeprozess, in dem der Haftpflichtversicherer den Täter auf 4.000 Euro sowie knapp 500 Euro Rechtsanwaltskosten aus dem Vorprozess in Anspruch nahm, führte bis zum BGH.
- Das Amtsgericht wies die Klage ab,
- das Landgericht gab ihr statt.
Es sah sich an die Feststellungen der Kollegen im Hause gebunden und kam so ohne Weiteres zu einer 100 %-igen Haftung des jungen Mannes im Innenverhältnis. Dass der nun behauptete, die nötige Einsicht und das Verantwortungsbewusstsein zum Zeitpunkt der Vergewaltigung nicht gehabt zu haben, ließen die Richter der 1. Kammer des LG Mühlhausen wegen der vermeintlichen Bindungswirkung unbeachtet.
Alles auf Anfang, im Folgeprozess muss Sachverhalt eigenständig festgestellt werden
Der BGH hat dem LG Mühlhausen den Fall mit dem Hinweis zurückgereicht, dass die angenommene Bindungswirkung nicht besteht. Er stellt klar:
- Aus dem Vorprozess, in dem der Gläubiger die Streitgenossen gesamtschuldnerisch in Anspruch nimmt, kann kein Nektar gesogen werden.
- Bindungswirkung entsteht nur zwischen den Parteien und deren Rechtsnachfolgern.
- Die Feststellungen müssen in dem Rechtsstreit um den Innenausgleich komplett neu getroffen werden.
- Alles kann wieder in Frage gestellt werden, auch das Bestehen eines Gesamtschuldverhältnisses überhaupt, somit das „Ob“ der Haftung.
Die 1. Kammer muss daher nun selbst Feststellungen zur intellektuellen Einsichtsfähigkeit des jungen Mannes vor nunmehr 12 Jahren treffen und ihre Entscheidung an deren Ergebnis ausrichten.
(BGH, Urteil v. 20.11.2018, VI ZR 394/17).
Weitere News zum Thema:
Wie weit reicht die Aufsichtspflicht von Lehrern?
Lehrer muss erste Hilfe leisten
-
Italienische Bußgeldwelle trifft deutsche Autofahrer
2.172
-
Wohnrecht auf Lebenszeit trotz Umzugs ins Pflegeheim?
1.7342
-
Gerichtliche Ladungen richtig lesen und verstehen
1.635
-
Klagerücknahme oder Erledigungserklärung?
1.613
-
Überbau und Konsequenzen – wenn die Grenze zum Nachbargrundstück ignoriert wurde
1.471
-
Wie kann die Verjährung verhindert werden?
1.400
-
Brief- und Fernmelde-/ Kommunikationsgeheimnis: Was ist erlaubt, was strafbar?
1.368
-
Wann muss eine öffentliche Ausschreibung erfolgen?
1.305
-
Verdacht der Befangenheit auf Grund des Verhaltens des Richters
1.136
-
Formwirksamkeit von Dokumenten mit eingescannter Unterschrift
1.0461
-
Fehler des Zustellers geht nicht zulasten einer Prozesspartei
20.11.2024
-
Bundestag beschließt neues Leitentscheidungsverfahren beim BGH
14.10.2024
-
Fristverlängerungsanträge widerlegen die Dringlichkeit
07.10.2024
-
Gesetzentwurf zum zivilgerichtlichen Onlineverfahren
10.09.2024
-
Zurückweisung der Berufung nicht vor Eingang der Berufungsbegründung
22.08.2024
-
Kanzleischlüssel vergessen, Berufungsfrist versäumt
15.08.2024
-
Abschlussbericht zum Projekt „Digitales Basisdokument“
14.08.2024
-
Das BMJ plant weitere Digitalisierungsschritte für die Justiz
03.07.2024
-
Nach Anwaltsfehler muss Ex-Ehemann Unterhalt zahlen
01.07.2024
-
Klagerücknahme oder Erledigungserklärung?
25.06.2024