Richter sind mit Befugnissen ausgestattet, die es ihnen ermöglichen sollen, während des Gerichtsverfahrens Ruhe und Ordnung zu sichern und die Würde des Gerichts gegen unpassendes Verhalten von Verfahrensbeteiligten oder Zuschauern zu verteidigen.
Der Gerichtssaal ist auch nicht mehr, was er Mal war
Überall haben sich die Zeiten geändert. Wir sind zwar noch nicht so weit wie die Amerikaner, wo die Nation Popcorn kauende vom heimischen Sofa aus zuschauen kann, wenn sich Angeklagte um Kopf und Kragen reden. Doch auch bei uns geht es in Gerichtsverhandlungen oft weniger formell zu, als noch vor 10 oder 20 Jahren.
Persönlichkeitsentfaltung vor Gericht?
In einer Gesellschaft, die die freie Entfaltung des Einzelnen zum Ideal erhoben hat, sind vorgegebene Formen nicht mehr leicht durchsetzbar. Gelegentlich versuchen Richter, einen Pflock einzuschlagen gegen die vor ihrer Bank immer laxer werdenden Sitten. Dass dies ein steiniger Weg ist, belegt eine Reihe von Urteilen: Die Gerichte mussten ihre Ansprüche an Würde und Feierlichkeit mit den Jahren immer weiter herunterschrauben. Meist geht es um § 178 GVG der dem Gericht erlaubt, Personen wegen ihres ungebührlichen Verhaltens im Gerichtssaal mit Ordnungsgeld oder gar mit Ordnungshaft zu bedenken und so aus dem Gerichtssaal zu entfernen.
Kleider- und Anstandsfragen im Wandel der Zeit
Früher galten als ungebührlich noch Verfehlungen, die aus heutiger Sicht wenig gravierend erscheinen. 1966 ging ein Streit darum, ob das Tragen ein Beatles-Haartracht im Gerichtssaal die Würde des Gerichts verletzte. Das tat es letztinstanzlich nicht.
Auch der Minirock im Gerichtsaal stand eine Zeitlang im Hinblick auf diese Vorschrift unter Beschuss. Das Tragen von Sportkleidung wurde zwar in den Dreißiger Jahren noch als ungebührlich geahndet, galt aber ab 1968 (!) nicht mehr als hinlänglicher Grund für einen Rauswurf: Die Sitten wurden lockerer und schienen teilweise ganz zu verfallen.
Warum rülpset …?
Das OLG Nürnberg vermerkte in einem Beschluss vom 27.08.1968 den Katalog üblicher Ungebührlichkeiten: Essen während der Verhandlung, Zeitunglesen, sich Ausziehen, lautes Schwatzen.
Und das waren noch die lässlichen Sünden im Vergleich zu Härtefällen:
tätliches Verhalten gegen den Richter,
Wegreißen der Akten
und Absetzung von Fäkalien im Gerichtssaal.
Bei einem so breit angelegten "Programm" wird verständlicher, dass mancher Stadtstreicher, zumal im Winter, die hinteren Ränge des Gerichtssaals der zugigen Parkbank vorzieht. Besonders verärgert war der Richter in dem obigen Beschluss, dass der Angeklagte sich weder erheben wollte, noch während der Verhandlung seinen - des Richters - Doktortitel in die Anrede integrieren mochte. Im Laufe des Verfahrens erwarb er - der Angeklagte - sich so an 2 Verhandlungstagen 4 Tage Ordnungshaft, die jeweils sofort vollstreckt wurden. Heute auch nicht mehr vorstellbar. Er müsste nur nach dem Titel der Doktorarbeit fragen, um ihn über XXXplag zur Strecke zu bringen.
Rückzugsgefechte?
Welche Bastionen konnten die Richter sichern, um den Umschwung vom Gerichtssaal in ein Tollhaus zu verhindern? Allen Umsturzversuchen zum Trotz wurde das Aufstehen während der Urteilsverkündung bisher beibehalten, es verletzt weder die Menschenwürde noch das Recht des Bürgers auf freie Entfaltung.
Rumtoben und Brüllen und natürlich Tätlichkeiten sind weiterhin ungebührlich. Bloße Unhöflichkeit dagegen und verbale Entgleisungen, so das OLG Hamm 1991, reichen für den Tatbestand der Ungebühr nicht immer aus.
Aber das Essen im Gerichtssaal, der schließlich keine Kantine ist, bleibt weiterhin verboten. Mehr oder weniger: Demonstratives Kauen von Kaugummi durch Verfahrensbeteiligte trotz Abmahnung kann Ordnungsmittel rechtfertigen (OLG Bamberg, Ws 633/88, Urteil v. 26.1.1989). Aber wenn ein erkälteter Zeuge ein Hustenbonbon lutscht (Schleswig-Holsteinisches OLG, 2 Ws 7/94, Urteil v. 13.1.1994) oder ein Diabetiker unterzuckert ist, ist der Richter machtlos.