Häufig stehen Anwälte in ihrer täglichen Arbeit unter Dauerstress. Im Unterschied zu Richtern, die ihr Gehalt auch dann beziehen, wenn sie ihren Pensenschlüssel einmal nicht erfüllen, hängen an einer Kanzlei erhebliche Fixkosten in Form von Personal- und Mietausgaben etc., die jedenfalls überdurchschnittliches Engagement voraussetzen.
Arbeitsüberlastung darf nicht vorhersehbar sein
Trotzdem kann sich der Anwalt bei Versäumung einer Frist nicht pauschal damit herausreden, er sei zu dem in Rede stehenden Zeitpunkt überlastet gewesen. Er muss gegebenenfalls detailliert auflisten, aus welchen Gründen er unvorhergesehen in eine geradezu ausweglose, unvorhersehbar-unabwendbare und unverschuldete Situation der Konzentrationslosigkeit geraten ist. So gesteht der BGH (Beschluss v. 8.5.2013, XII ZB 396/12) Anwälten zu, dass eine erhebliche Arbeitsüberlastung des Rechtsanwalts eine Wiedereinsetzung rechtfertigen kann. Dies allerdings nur dann ausnahmsweise, wenn sie plötzlich und unvorhersehbar eingetreten ist und durch sie die Fähigkeit zu konzentrierter Arbeit erheblich eingeschränkt wird.
Zu urlaubsreif
Beispiel: In dem entschiedenen Fall hatte der Anwalt eine Fristversäumnis damit begründet, dass er am Tag nach dem Fristablauf einige Tage in Urlaub fahren wollte. Zudem habe er am Tag des Fristablaufs vom Tod seines früheren Sozius erfahren, was in persönlich stark mitgenommen und erhebliche organisatorische Sofortmaßnahmen erfordert habe. Doch das alles ließen die Richter nicht gelten. Begründung: Die erhöhte Arbeitsbelastung kurz vor seinem Urlaub und die Nachricht vom plötzlichen Tod seines ehemaligen Sozius hätten für den Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin zwar eine besondere Belastung dargestellt, Trauer und Urlaubsstress reichten als Entschuldigung für die Fristversäumnis aber nicht aus.
Zu traurig
Insbesondere sei der erhöhte Arbeitsanfall am Tag vor Urlaubsantritt nicht plötzlich und unvorhersehbar eingetreten. Der Anwalt hätte schlicht eine (erstmalige) Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist beantragen müssen. Auch die Nachricht vom Tode des Sozius reichte dem Gericht als Begründung für eine Wiedereinsetzung nicht aus. Immerhin habe es der Anwalt trotzdem geschafft, bis abends 23 Uhr zu arbeiten.
Zu schusselig
Wird auf dem Berufungsantrag die elektronische Signatur vergessen, so gilt der Antrag als nicht gestellt. Die Signatur muss auf allen bestimmenden Schriftsätzen angebracht sein. Eine Signatur lediglich auf Anlagen ist auch im Fall eines Versehens kein Wiedereinsetzungsgrund, selbst wenn die Umstände deutlich dafür sprechen, dass auch der bestimmende Schriftsatz mit einer Signatur versehen werden sollte (BGH, Beschluss v. 19.1.2023, V ZB 28/22). Überlastung durch hohes Arbeitsaufkommen ist auch in diesem Fall keine Entschuldigung.
Nicht entschuldbare Schusseligkeit ist nach einer aktuellen Entscheidung des BGH auch dann gegeben, wenn bei Einreichung eines Berufungsschriftsatzes über das BeA versehentlich statt des Berufungsschriftsatzes ein Schriftsatz beigefügt wird, der ein anderes Verfahren betrifft. Die Argumentation des Anwalts, im BeA sei der Dateiname „Berufungsschriftsatz.pdf“ angezeigt worden, ist nach Auffassung des BGH ein eindeutiger Hinweis auf eine unzureichende Ausgangskontrolle. Bei der digitalen Übermittlung von fristgebundenen Schriftsätzen sei sicherzustellen, dass der Schriftsatz mit einem individuellen Dateinamen gekennzeichnet wird, damit später anhand des Prüfprotokolls eine fehlerhafte Versendung erkannt werden kann. Der pauschale Dateiname „Berufungsschriftsatz“ entspreche nicht dieser Anforderung, ein Wiedereinsetzungsgrund sei nicht gegeben (BGH, Beschluss v. 31.8.2023, VIa ZB 24/22).
Zu lässig
Ist unklar, ob überhaupt die Berufungssumme erreicht wird, sollte der Anwalt bei zweifelhaftem Gegenstandswert sowohl eine Verfahrensrüge als auch parallel Berufung einlegen. Denn der Anwalt muss für seinen Mandanten immer den sichersten Weg wählen. Für fahrlässig hielt der BGH das Verhalten eines Anwalts, der hinsichtlich der erstinstanzlich nicht stattgegebenen Zahlungsklage in Höhe von 575 EUR nur eine Verfahrensrüge erhob, obwohl sein Mandant zusätzlich die Freistellung von den Anwaltsgebühren verlangt hatte und somit die Berufungssumme überschritten worden war (Beschluss v. 8.5.2012, VI ZB 1/11 und VI ZB 2/11).
Unvollständige Unterlagen: Keine Wiedereinsetzung wird gewährt, wenn zum PKH-Antrag lediglich die Kopie eines Berechnungsbogens zur Ermittlung des ALG II (seit 1.1.2023 Bürgergeld) eingereicht wird, statt der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse (BFH, Beschluss v. 29.10.2008, III S 32/08).
Auch Fehler des ausführenden Personals dürfen nicht vorhersehbar sein
In der Hektik des Alltags passiert es immer wieder, dass es zwischen Anwalt, Personal und Gericht zu Missverständnissen kommt. Umso wichtiger sind da klare Anweisungen des Anwalts an sein Personal. Den Rechtsanwalt trifft im Fall einer Fristversäumung wegen Fehlleitung eines Schriftsatzes nach Ansicht des BGH dann kein zurechenbares Verschulden, wenn er einer bislang zuverlässigen Kanzleiangestellten eine konkrete Einzelanweisung erteilt hat, bei deren Befolgung die Frist gewahrt worden wäre (BGH, Beschluss v. 13.9.2012, IX ZB 251/11).
Zu optimistisch: Nicht auf gerichtliche Unterstützung bauen
In derselben Entscheidung erteilte der BGH der Ansicht eines Anwalts eine Absage, das unzuständige Gericht müsse sich mit der Weiterleitung an das zuständige Gericht beeilen. Eine Pflicht des Gerichts, Maßnahmen zur besonderen Beschleunigung zu ergreifen, um eine mögliche Verfristung aufzufangen, besteht nach der Rechtsprechung des BGH, die vom BVerfG gebilligt wird, nicht. „Andernfalls würde den Parteien und ihren Prozessbevollmächtigten die Verantwortung für die Einhaltung der Formalien abgenommen und den unzuständigen Gerichten übertragen. Damit würden die Anforderungen an die aus dem Anspruch auf ein faires Verfahren abgeleitete richterliche Fürsorgepflicht überspannt werden“, schreibt der BGH in dem Beschluss.
Geschäftsstelle ist kein verbindliches Auskunftsbüro
Auch auf die Aussagen einer Geschäftsstellenmitarbeiterin darf sich ein Anwalt bzw. dessen Bürokraft nicht verlassen. In einem vom BGH entschiedenen Fall hatte ein Anwalt eine zweite Berufungsbegründungsfrist beantragt, was allerdings ohne die Zustimmung des Gegners nicht möglich ist. Ohne zu wissen, ob diese vorlag, hatte die Geschäftsstellenleiterin der Bürokraft des Anwalts telefonisch mitgeteilt, dass die zweite Frist genehmigt worden sei.
Darauf durfte der Anwalt nach Ansicht des BGH nicht vertrauen. „Vielmehr hätte sich in dieser Situation (zumindest) der Prozessbevollmächtigte der Beklagten bei Abwesenheit des Senatsvorsitzenden selbst an dessen Stellvertreter oder den Berichterstatter wenden und weiter kundig machen müssen. Das ist nicht geschehen“, monierte der BGH (Beschluss v. 26.7.2012, III ZB 57/11) und wies den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ab.