Auch bei Stau hat die Fahrspur Vorfahrt gegenüber dem Beschleunigungssteifen
Ein Fahrer eines Ferraris wollte vom Beschleunigungsstreifen auf die rechte Fahrspur auf der Autobahn einbiegen und kollidierte dabei mit einem Lkw. Der Unfallhergang war streitig.
Kompletter Stillstand auf den rechten Fahrstreifen der Autobahn
Der Ferrari-Fahrer behauptete, dass auf dem rechten Fahrstreifen, auf dem sich der Lkw befand, kompletter Stillstand geherrscht habe. Er sei mit seinem Sportwagen vom Einfädelungsstreifen in eine größere Lücke vor den Lkw gefahren. Dabei habe er sich etwas quer vor den Lkw gestellt, weil er von der rechten Fahrspur gleich auf die linke habe wechseln wollen. Auf dieser sei noch Stop-and-Go-Verkehr gewesen und kein kompletter Stau wie auf der rechten Fahrspur. Sein Auto habe gestanden, als sich der Lkw in Bewegung gesetzt habe und auf ihn aufgefahren sei.
Von dem Lastwagenfahrer wollte der Ferrari-Pilot den kompletten Schaden an seinem Fahrzeug ersetzt bekommen. Das Landgericht sah die Hauptschuld beim Lkw-Fahrer und sah bei dem Ferrari-Fahrer nur ein Mitverschulden von 25 Prozent.
Vorfahrt für Verkehr auf durchgehenden Fahrbahnen
Das OLG Celle kam zu einer anderen Einschätzung und sah in dem Ferrari-Fahrer den Hauptverursacher des Unfalls. Dieser habe gegen § 18 Abs. 3 StVO verstoßen und dadurch den Unfall herbeigeführt. Nach dieser Vorschrift hat auf Autobahnen und Kraftfahrstraßen der Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn Vorfahrt. Beschleunigungsstreifen gehören nicht zu durchgehenden Fahrbahnen.
Wer vom Beschleunigungsstreifen auf die Autobahn einfährt, ist wartepflichtig
Der einfahrende Verkehr – in diesem Fall der Ferrari-Fahrer – ist wartepflichtig. Er darf nur so einfahren, dass er den durchgehenden Verkehr nicht gefährdet oder behindert. Der Verkehr auf den durchgehenden Fahrbahnen dürfe darauf vertrauen, dass die anderen Verkehrsteilnehmer diese beachteten.
Vorfahrt gilt auch bei Stau auf bevorrechtigter Fahrbahn
Die Vorschrift des § 18 Abs. 3 StVO finde, entgegen der Ansicht des Landgerichts, auch Anwendung, wenn auf der bevorrechtigten Fahrbahn Stau herrsche. Der Wortlaut des § 18 Abs. 3 StVO „Vorfahrt“ leite sich nicht aus einer Bewegung – „fahren“ – ab, sondern aus einem Vorrecht, das der Gesetzgeber für die sich auf der Fahrspur befindlichen Fahrzeuge gegenüber dem Verkehr auf der Einfädelungsspur normiert hat.
Gesteigerte Sorgfaltspflicht für denjenigen, der einfährt
Der Ferrari-Fahrer hat zudem gegen § 10 StVO verstoßen. Danach ist beim Einfahren auf die Fahrbahn aus einem anderen Straßenteil die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen. Beschleunigungsstreifen sind „andere Straßenteile“. Wer von ihnen einfährt, den trifft eine gesteigerte Sorgfaltspflicht. Dies habe der Ferrari-Fahrer nicht beachtet, als er vom Beschleunigungsstreifen auf die rechte Fahrspur gewechselt hatte.
Komme es in unmittelbarem zeitlichem und räumlichem Zusammenhang mit dem Einfahren zu einer Kollision mit dem fließenden Verkehr, so spreche der Anschein gegen den Einfahrenden, so das Gericht. Die Haftungsverteilung legte es mit 75 zu 25 Prozent zu Lasten des Ferrari-Fahrers fest. Dieser habe den Unfall im Wesentlichen verursacht. Er sei, trotz des erkennbaren Risikos, vom Lkw-Fahrer übersehen zu werden, auf dessen Spur eingefahren ist, ohne vorher mit ihm Blickkontakt aufgenommen zu haben.
(OLG Celle, Urteil v. 23.06.2021, 14 U 186/20).
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Anmerkung: Einfahren auf die Autobahn und stehender Verkehr
Auch das OLG Hamm nimmt zu dem Thema in seinem Beschluss v. 3.5.2018 (Az: 4 RBs 117/18) Stellung , fordert aber ein Minimum an Bewegung auf dem Fahrstreifen für die Anwendbarkeit des des § 18 Abs. 3 StVO . Es führt dazu Folgendes aus
"Zutreffend geht das AG zwar davon aus, dass der auf eine Autobahn Auffahrende das Vorfahrtsrecht des fließenden Verkehrs zu beachten hat (OLG Hamm VersR 1994, 952), und zwar auch dann, wenn zähfließender Verkehr und staubedingt “Stop-and-Go-Verkehr' herrscht (LG Essen, Beschl. v. 8.4.2013 – 15 S 48/13, juris). Wie schon die Formulierung im Gesetz “Vorfahrt' zeigt, muss allerdings ein Mindestmaß an Bewegung im Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn der Autobahn geherrscht haben, da ansonsten nicht von “Fahrt' gesprochen werden kann. Steht der Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn hingegen, so gibt es keine “Vorfahrt', die Vorrang haben könnte. Bei stehendem Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn würde es auch keinen Sinn machen, den Auffahrenden dazu zwingen zu wollen, eine bestehende – hinreichend große – Lücke zwischen zwei stehenden Fahrzeugen nicht zu nutzen.
Das bedeutet allerdings nicht, dass schon bei jeglichem verkehrsbedingten Halt auf der durchgehenden Fahrbahn – und sei er auch zeitlich noch so kurz – bereits die Vorfahrtsregelung des § 18 Abs. 3 StVO keine Geltung mehr beanspruchen könnte. Erst wenn der Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn in einer Weise zum Stehen gekommen ist, dass mit einer erneuten Fahrbewegung in kürzerer Frist nicht zu rechnen ist, ist das der Fall. Ansonsten würde die Regelung ausgehebelt. Der Senat bestätigt daher ausdrücklich die Rechtsprechung, dass § 18 Abs. 3 StVO auch bei sog. Stop-and-Go-Verkehr gilt.
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