Zur Mithaftung eines 11-jährigen Radlers für einen Verkehrsunfall
Ein elfjähriger Junge radelte auf einem Gehweg. An dessen Ende fuhr er, ohne anzuhalten, auf die Fahrbahn, um diese zu überqueren. Dabei kollidierte er mit einem von links kommenden Autofahrer, der sich bei dem Unfall verletzte und an der rechten Schulter operiert werden musste.
Haftpflichtversicherung des Jungen weigerte sich zu zahlen
Vor Gericht musste die Haftungsverteilung geklärt werden, da die Haftpflichtversicherung des Jungen sich weigerte zu zahlen. Das Landgericht Landshut hatte die alleinige Schuld bei dem klagenden Autofahrer gesehen. Das OLG München kam zu einer anderen Einschätzung und legte die Haftungsverteilung mit 50 zu 50 fest.
Das Landgericht habe rechtsfehlerhaft übersehen, dass der beklagte Elfjährige beim Herunterfahren mit dem Fahrrad vom Gehsteig auf die Straße nicht die ihm gebotene Sorgfalt beachtet und damit gegen die Verpflichtung des § 10 StVO verstoßen habe.
Junge hätte vor Überqueren der Fahrbahn anhalten müssen
Der Junge wäre dazu verpflichtet gewesen, am Ende des Gehsteigs anzuhalten und zu überprüfen, ob von links Verkehr komme, um sicherzustellen, dass er die Straße ohne die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer überqueren könne.
Dass die Blickmöglichkeit des Jungen nach links an der Stelle stark eingeschränkt war, entlaste ihn nicht. Ganz im Gegenteil. Gerade deshalb sei er zu diesem Verhalten besonders verpflichtet gewesen. Denn gemäß § 10 StVO hat sich derjenige, der von einem Gehweg auf eine Fahrbahn einfahren will, so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist.
Elfjähriger ist im Straßenverkehr eine besonders geschützte Person
Zwar habe der klagende Autofahrer im Verhältnis zu dem Elfjährigen als eine gemäß § 3 Abs. 2a StVO besonders geschützte Person äußerste Sorgfalt an den Tag legen müssen. Das Gericht kam aber zu der Einschätzung, dass der Verstoß des Autofahrers gegen die Verpflichtungen aus §§ 8, 3 Abs. 2a StVO und der Verstoß des Elfjährigen gegen die Verpflichtung aus § 10 StVO als gleich schwerwiegend einzustufen seien.
Sorgfaltsanforderungen beim Verlassen des Bürgersteigs gelten auch für Elfjährige
Die Vorschrift des § 10 StVO stelle im Gegensatz zu der Vorschrift des § 8 StVO die höchsten Sorgfaltsanforderungen, die von einem Verkehrsteilnehmer erfüllt werden müssen. Hiergegen habe der Elfjährige eklatant verstoßen, indem er – angesichts seines Alters – vorschriftswidrig und entgegen der Fahrtrichtung auf dem Gehsteig mit dem Fahrrad und darüber hinaus – ebenso wie der Autofahrer – ohne zu schauen und damit unaufhaltsam auf die Fahrbahn gefahren sei.
Einsichtsfähigkeit des Kindes war laut Gericht gegeben
Ein elfjähriges Kind verfüge über eine gemäß § 828 III BGB ausreichende Einsichtsfähigkeit hinsichtlich der Straßenverkehrsregeln und wisse insbesondere, dass es nicht ohne zu schauen von einem Gehweg aus mit einem Fahrrad einfach auf eine Straße fahren dürfe.
(OLG München, Urteil v. 03.03.2021, 10 U 4990/20).
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Hintergrund: Kinder und Jugendliche im Straßenverkehr
Bei Unfällen mit deliktsunfähigen Kindern (bis 10 Jahre, § 828 Abs. 2 BGB) trifft den Kfz-Halter grundsätzlich die volle Haftung, weil ein Haftungsausschluss wegen höherer Gewalt nach § 7 Abs. 2 StVG praktisch nicht denkbar ist und die Berufung auf ein unabwendbares Ereignis nach § 17 Abs. 3 und 4 StVG gegenüber Fußgängern generell nicht möglich ist. Eine Mithaftung des deliktsunfähigen Kindes kann allenfalls über § 829 BGB (Ersatzpflicht aus Billigkeitsgründen) in Betracht zu ziehen sein.Bei Unfällen mit deliktsfähigen Kindern und Jugendlichen ist zu beachten, dass den Kfz-Fahrer beim Auftauchen von Kindern in Fahrbahnnähe die erhöhte Sorgfaltspflicht des § 3 Abs. 2a StVO trifft (vgl. hierzu BGH, Urteil v. 19.04.1994, VI ZR 219/93, NJW 1994, 2829). Dies hat zur Folge, dass bei Unfällen mit deliktsfähigen Kindern und Jugendlichen, denen ein Mitverschulden nach § 9 StVG i.V.m. § 254 BGB anzulasten ist, eine Schadensverteilung mit einer im Vergleich zu der Haftungsverteilung bei vergleichbaren Unfällen mit Erwachsenen etwas höheren Haftungsquote zu Lasten des Kfz-Halters in Betracht kommt (Grüneberg NJW 2013, 2705).Gleichwohl ist auch eine alleinige Haftung des deliktsfähigen Kindes möglich, wenn ihm objektiv und subjektiv ein erhebliches Verschulden zur Last fällt, welches die Betriebsgefahr des Kraftfahrzeugs als völlig untergeordnet erscheinen lässt (BGH NZV 2007, 207). Aus: Deutsches Anwalt Office Premium
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