Altersvorsorgeaufwendungen als vorweggenommene Werbungskosten
Die gesetzgeberische Qualifizierung von Altersvorsorgeaufwendungen als Sonderausgaben und die vorgesehene höhenmäßige Beschränkung des Sonderausgabenabzugs sind verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die Frage des Verstoßes gegen das Verbot der Doppelbesteuerung kann erst in den Veranlagungszeiträumen der Rentenbesteuerung zum Gegenstand der verfassungsrechtlichen Beurteilung gemacht werden.
Sachverhalt in den beiden Verfahren
- Die Beschwerdeführerin im Verfahren 2 BvR 290/10 machte in ihrer Einkommensteuererklärung erfolglos den Arbeitnehmeranteil zur gesetzlichen Rentenversicherung als vorweggenommene Werbungskosten steuermindernd geltend. Einspruch und Klage der Beschwerdeführerin blieben ohne Erfolg.
- Der Beschwerdeführer im Verfahren 2 BvR 323/10 ist als Steuerberater und vereidigter Buchprüfer nichtselbständig tätig. Er beantragte im Lohnsteuer-Ermäßigungsverfahren beim zuständigen Finanzamt erfolglos, die von ihm zu leistenden Beiträge an das Wirtschaftsprüfer-Versorgungswerk als vorweggenommene Werbungskosten auf der Lohnsteuerkarte einzutragen. Einspruch und Klage des Beschwerdeführers blieben ebenfalls ohne Erfolg.
Mit ihren Verfassungsbeschwerden rügen die Beschwerdeführer im Wesentlichen eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 Abs. 1 GG.
Wesentliche Erwägungen der Kammer
Die angegriffenen Entscheidungen und die diesen zugrundeliegenden Regelungen des Einkommensteuergesetzes verletzen die Beschwerdeführer nicht in ihrem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG.
1. Der Gesetzgeber hat Altersvorsorgeaufwendungen einfachrechtlich als Sonderausgaben qualifiziert (§ 10 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe a EStG), woran er von Verfassungs wegen nicht gehindert ist. Die vom Bundesfinanzhof vorgenommene Einordnung von § 10 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe a EStG als lex specialis gegenüber § 10 Abs. 1 in Verbindung mit § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG ist verfassungsrechtlich ebenfalls nicht zu beanstanden. Der Bundesfinanzhof weist zu Recht darauf hin, dass die an die gesetzliche Rentenversicherung und berufsständische Versorgungseinrichtungen zu leistenden Beiträge ihrer materiellen Rechtsnatur nach nicht in vollem Umfang Werbungskosten des Beitragszahlers darstellen. Altersvorsorgeaufwendungen in Form von Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung und berufsständischen Versorgungseinrichtungen weisen neben ihrer Bestimmung zur Erzielung zukünftiger Einkünfte anders als üblicherweise vorweggenommene Werbungskosten zugleich vermögensbildende oder versicherungsspezifische Komponenten auf.
Soweit sich der Gesetzgeber mit der Umstellung auf die nachgelagerte Besteuerung der Alterseinkünfte von dem Prinzip der Ertragsanteilsbesteuerung gelöst hat, mag es auf der Ebene des einfachen Steuerrechts systematisch vorzugswürdig erscheinen, die Aufwendungen nunmehr der Sphäre der Einkünfte und den Werbungskosten zuzuordnen. Dem Gesetzgeber steht jedoch ein weiter Spielraum zu, der mit der einheitlichen Zuweisung von Altersvorsorgeaufwendungen zu den Sonderausgaben nicht überschritten ist.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind lediglich die Besteuerung von Vorsorgeaufwendungen für die Alterssicherung und die Besteuerung von Bezügen aus dem Ergebnis der Vorsorgeaufwendungen so aufeinander abzustimmen, dass eine doppelte Besteuerung vermieden wird. Damit ist keine Aussage darüber verbunden, ob die Besteuerung von Altersbezügen vor- oder nachgelagert zu erfolgen hat. Das Verbot doppelter Besteuerung kann sowohl durch entsprechende Regelungen in der Aufbau- als auch in der Versorgungsphase gewahrt werden. Aus dem Verbot doppelter Besteuerung lässt sich kein Anspruch auf eine bestimmte Abzugsfähigkeit der Beiträge in der Aufbauphase ableiten.
2. Die vorgesehene höhenmäßige Beschränkung des Sonderausgabenabzugs für Altersvorsorgeaufwendungen auf jährlich bis zu 20.000 EUR beziehungsweise 40.000 EUR (§ 10 Abs. 3 Sätze 1 und 2 EStG) ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
Der Gesetzgeber hat sich bei der Einführung der höhenmäßigen Abzugsbeschränkung auf das Ziel der Missbrauchsvermeidung gestützt. Die Begrenzung diente aus seiner Sicht dazu, eine unerwünschte Umschichtung erheblicher Beträge in Rentenversicherungsprodukte insbesondere durch jüngere Steuerpflichtige auszuschließen. Dabei handelt es sich um einen sachgerechten Grund für die Beschränkung der Altersvorsorgeaufwendungen und die damit verbundene Ausnahme von der gesetzgeberischen Entscheidung für eine grundsätzlich nachgelagerte Besteuerung der Alterseinkünfte. Das Ziel der Missbrauchsvermeidung liegt innerhalb des weiten gesetzgeberischen Entscheidungsspielraums.
Nach Maßgabe des Verbots der Doppelbesteuerung kann die höhenmäßige Beschränkung nicht schon in der Vorsorgephase, sondern erst in den Veranlagungszeiträumen der Rentenbesteuerung zum Gegenstand der verfassungsrechtlichen Beurteilung gemacht werden. Die dafür maßgebenden steuerrechtlichen Zusammenhänge ergeben sich erst aus einer Gesamtbetrachtung der steuerlichen Vorschriften der Aufbau- und der Rückflussphase.
3. Auch die Übergangsregelung des § 10 Abs. 3 Sätze 4 bis 6 EStG steht mit verfassungsrechtlichen Anforderungen in Einklang. Sie sieht - beginnend ab dem Jahr 2005 - eine begrenzte und in den Folgejahren allmählich steigende prozentuale Berücksichtigung von Altersvorsorgeaufwendungen bis zu deren vollen Abzugsfähigkeit ab dem Jahr 2025 vor. Das führt dazu, dass ein Arbeitnehmer vor dem Jahr 2025 nur einen Teil seiner Altersvorsorgeaufwendungen als Sonderausgaben steuermindernd geltend machen kann, auch wenn seine Rentenbezüge voraussichtlich zu 100 % der Besteuerung unterliegen, weil er erst nach dem Jahr 2025 das derzeit geltende Renteneintrittsalter erreicht.
Ungleichbehandlungen, die damit einhergehen, sind für die Übergangszeit - bis zur Grenze einer verbotenen Doppelbesteuerung - verfassungsrechtlich hinnehmbar. Wegen des Verbots der Doppelbesteuerung war es dem Gesetzgeber verwehrt, sämtliche Alterseinkünfte unmittelbar ab Inkrafttreten des Alterseinkünftegesetzes zu 100 % der nachgelagerten Besteuerung zu unterwerfen, weil diese nach Maßgabe des bis dahin geltenden Rechts in erheblichem Umfang aus bereits vorgelagert besteuerten Beiträgen stammen. Mit der gewählten Stufenlösung für die steuerliche Entlastung der Vorsorgeaufwendungen verfolgte der Gesetzgeber nicht das Ziel der Einnahmenvermehrung, das für sich betrachtet ungleiche Belastungen durch konkretisierende Ausgestaltung der steuerrechtlichen Grundentscheidungen nicht zu rechtfertigen vermag. Zielrichtung der Übergangsregelung war vielmehr eine schrittweise Überführung der früheren verfassungswidrigen Besteuerung von Alterseinkünften in eine verfassungskonforme Ausgestaltung der Regelungen zur steuerlichen Berücksichtigung von Altersvorsorgeaufwendungen einerseits und zur Besteuerung von Alterseinkünften andererseits.
Die unvollständige Abstimmung des Umfangs der abziehbaren Altersvorsorgeaufwendungen mit dem voraussichtlichen Besteuerungsanteil der künftigen Rentenzuflüsse ist für den Übergangszeitraum durch Typisierungs- und Vereinfachungserfordernisse gerechtfertigt. Das Bundesverfassungsgericht hat auch bei Abweichungen vom Prinzip der steuerlichen Leistungsfähigkeit nicht zu untersuchen, ob der Gesetzgeber die zweckmäßigste oder gerechteste Lösung gefunden hat, sondern nur, ob er die verfassungsrechtlichen Grenzen seiner Gestaltungsfreiheit überschritten hat.
Zwar ist es gerade für die Arbeitnehmerjahrgänge, die in den Jahren 2039 bis 2043 in die Rentenbezugsphase eintreten, nicht ausgeschlossen, dass es zu einer Doppelbesteuerung kommt, weil ihre Aufwendungen in den ersten Jahren nach Inkrafttreten des Alterseinkünftegesetzes nur in verhältnismäßig geringem Umfang steuerlich entlastet worden sind. Ein Verstoß gegen das Verbot der Doppelbesteuerung kann jedoch erst in den Veranlagungszeiträumen der Rentenbesteuerung zum Gegenstand der verfassungsrechtlichen Prüfung gemacht werden. Die Überprüfung des Verbots der Doppelbesteuerung schon in der Aufbauphase wäre mit erheblichen Unsicherheiten behaftet. Es müssten die derzeit gültigen gesetzlichen Regelungen für die Besteuerung der Rückflussphase zum Gegenstand verfassungsrechtlicher Prüfung gemacht werden, obwohl sie bezogen auf den jeweiligen Steuerpflichtigen gegebenenfalls erst dreißig oder sogar vierzig Jahre später zur Anwendung kommen würden und möglicherweise in ihrer jetzigen Ausgestaltung dann gar nicht mehr gelten. Auch in tatsächlicher Hinsicht müsste mit zahlreichen Annahmen gearbeitet werden, von denen sich erst in der Rentenbezugsphase herausstellt, ob sie zutreffen. Eine Überprüfung des Doppelbesteuerungsverbots erst in den Veranlagungszeiträumen der Rentenbezugsphase vermeidet diese Unsicherheiten.
4. Die vom Beschwerdeführer im Verfahren 2 BvR 323/10 gerügte Regelung des § 39a Abs. 1 EStG, wonach für Altersvorsorgeaufwendungen kein Freibetrag auf der Lohnsteuerkarte eingetragen werden kann, hält einer verfassungsrechtlichen Überprüfung ebenfalls stand.
BVerfG, Beschlüsse v. 14.6.2016, 2 BvR 290/10, 2 BvR 323/10
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