„Nachhaltiges Wirtschaften muss eine unverzichtbare Business-Disziplin werden“
Anfang 2020 hat Vaude eine Academy für nachhaltiges Wirtschaften gegründet. Wie kommt man als Outdoor-Ausrüster auf eine solche Idee?
Lisa Fiedler: Das kam von zwei Seiten. Zum einen haben wir immer mehr Anfragen von Unternehmern, Schulen und Hochschulen bekommen, die gerne von uns lernen wollten. Es hat sich herumgesprochen, dass wir einen Transformationsprozess angestoßen haben und sehr von der Vision getrieben sind, unseren Planeten als lebenswerte Welt zu erhalten. Wir wurden gefragt, ob wir auch andere Organisationen dabei begleiten und beraten würden. Hin und wieder haben wir das in Pilotprojekten gemacht. Das war für uns sehr sinnstiftend, aber wir hatten wenig zeitliche Kapazitäten dafür. Zum anderen beschäftigen wir uns schon länger damit, wie wir das Geschäftsmodell von Vaude weiterentwickeln können. Wenn Ressourcen endlich sind, können und wollen wir irgendwann mit unseren Outdoor-Produkten nicht mehr wachsen.
Die Vaude Academy ist also Teil einer Diversifizierungsstrategie?
Ja, auch. Wir haben inzwischen einen Miet-Service und eine Upcycling-Werkstatt. In der Geschäftsmodellentwicklung fokussieren wir uns darauf, was unsere Kernkompetenz ist: nämlich nachhaltiges Wirtschaften.
Die Vaude Academy bietet vor allem Strategieberatung, aber auch Qualifizierungsformate für verschiedene Zielgruppen. Kann man nachhaltiges Wirtschaften lernen oder ist das nicht vielmehr eine Frage der Überzeugung?
Wir agieren aus dem Verständnis heraus, dass Nachhaltigkeit ein Teil von unternehmerischer Verantwortung ist und in die Unternehmensstrategie integriert werden muss. Deshalb sprechen wir von nachhaltiger Unternehmensstrategie. Der Begriff „Nachhaltigkeitsstrategie“ suggeriert in gewisser Weise, dass diese Strategie parallel zur Unternehmensstrategie existieren könnte. Beides muss aber gemeinsam gedacht, konzipiert und entwickelt werden. Man kann zwar immer etwas über Nachhaltigkeit lernen. Aber wirklich voran geht es nach meinen Beobachtungen nur, wenn die Geschäftsführung hinter einer solchen strategischen Transformation steht.
Welche Unternehmen kommen auf die Vaude Academy zu?
Wir haben einen Schwerpunkt in der Textilbranche, aber es sind auch Unternehmen aus ganz anderen Bereichen darunter. Es gibt ein paar Organisationen, die mit einem konkreten fachlichen Thema ankommen und sich zum Beispiel das Lieferanten-Management angucken möchten. Der Großteil will jedoch das Thema Nachhaltigkeit ganzheitlich, strategisch und systematisch angehen. Bei diesen Unternehmen laufen meistens schon einzelne Nachhaltigkeitsprojekte, zum Beispiel zum Thema Umweltschutz. Aus diesem „Projektchen-Stadium“ wollen sie raus. Und stehen vor vielen Fragezeichen: Wie machen wir das? Wo fangen wir an? Und was heißt Nachhaltigkeit eigentlich? Ihnen wird klar, dass die Transformation ganz viele Facetten hat. Das bringt eine hohe Komplexität mit sich.
Und wie kommt man aus dem Projektstatus raus – was sind erste Schritte?
Wir setzen häufig bei der Frage an: Was sind die drei bis fünf wesentlichen Stellschrauben für eine Organisation, um sich nachhaltig wirtschaftlich aufzustellen. Wir bieten dabei Beratung zur Selbsthilfe.
Die wesentlichen Stellschrauben sind sicherlich von Organisation zu Organisation verschieden.
Ja, deshalb erarbeiten wir das gemeinsam mit den Unternehmen. Häufig mit einem interdisziplinären Team auf Kundenseite. Wir bringen einen Prozess mit, von dem wir meinen, dass man damit die Essenz erfolgreich gefasst bekommt. Am Ende kommt idealerweise eine Roadmap mit ganz klaren Zielsetzungen, Kennzahlen, Zielwerten und Verantwortlichkeiten heraus. Dafür setzen wir verschiedene Workshop-Formate ein, für die wir die Methodik mitbringen. Wir geben auch inhaltliche Impulse und teilen unsere Einschätzungen. Einen starken Fokus legen wir auf Strategieentwicklungsprojekte.
Was sind das für Workshopformate?
Letztlich ist das ein klassischer Strategiebildungsprozess. Wir steigen mit dem Nachhaltigkeitsverständnis ein.
Es kann sehr facettenreich sein, was Beschäftigte unter Nachhaltigkeit verstehen – da hat jeder etwas anderes im Kopf. Und von da aus entwickeln wir ein Zielbild und fragen, wo das Unternehmen aktuell steht und wo es hinwill.
Nachhaltigkeitsverständnis, Status quo und Zielbild setzen die Leitplanken. Wir schauen uns auch die Erwartungen von Stakeholdern an, also sowohl von Mitarbeitenden als auch von Externen wie etwa Banken, Kund:innen oder Lieferant:innen. Auf der Basis geht es darum, Handlungsoptionen zu erkennen. Wenn man sich die Gaps zum Zielbild anschaut, stellt man oft fest: Das Unternehmen startet nicht bei null. Meistens ist schon etwas da. Es hilft und motiviert, wenn der komplette Handlungsbedarf klar wird. Dann versorgen wir die Unternehmen auch inhaltlich mit Futter und Wissen, bevor es daran geht, die konkreten Ziele zu definieren – mit konkreten Maßnahmen und Zeithorizonten.
Wie weit können denn die Ziele vom Status quo weg sein, damit sie nicht demotivieren?
Es gilt eine Balance zu halten. Die Ziele sollten ambitioniert sein und wirklich etwas verbessern. Nur dann motivieren sie die Beschäftigten auch. Aber sie sollten auch nicht zu hochgesteckt sein, weil das die Organisation auch in die Überforderung bringen kann.
Als Schwierigkeit kommt noch dazu: Nicht immer kann man den Effekt von Maßnahmen gut messen – zum Beispiel, wenn es um soziale Aspekte geht. Da muss man behutsam und kreativ vorgehen.
Wer stößt auf Unternehmensseite Strategieentwicklungsprojekte für Nachhaltigkeit an?
Das ist unterschiedlich. Oft sind es diejenigen, die eine offizielle Rolle als Nachhaltigkeitsbeauftragte im Unternehmen haben. Manchmal auch Beschäftigte, die aus persönlichem Interesse und Engagement das Thema Nachhaltigkeit vorantreiben. Viele Unternehmen haben noch keine definierten Rollen oder Verantwortlichkeiten und keine Nachhaltigkeitsstruktur. Es nehmen sich aber natürlich auch Geschäftsführer und Geschäftsführerinnen dem Thema an. Es ist sehr wichtig, dass die Unternehmensführung hinter einem Strategieprozess steht – auch wenn sie nicht die Initialzündung gibt.
Warum ist das so wichtig?
Wenn die Führung sich authentisch dafür einsetzt, entwickelt das eine ganz große Strahlkraft. Wir haben bei Vaude das Glück, dass das mit Antje von Dewitz der Fall ist. Das hilft uns, wenn es ans Eingemachte geht. Nachhaltiges Wirtschaften ist komplex und erzeugt viele Spannungsfelder und Zielkonflikte. Wenn der Eindruck entsteht, das ist von ganz oben nicht wirklich gewollt, streut das zu viel Sand ins Getriebe. Der Fisch stinkt vom Kopf, wie man so schön sagt.
Welche Rolle spielen die Führungskräfte insgesamt?
In einem abgestuften Maße haben natürlich auch alle Führungskräfte eine Vorbildfunktion. Bei Vaude hat sich die Rolle der Führungskräfte durch die nachhaltige Transformation stark gewandelt. Früher waren sie die inhaltlichen Entscheider. Heute sind sie Rahmengebende, die die Vision vermitteln und Leitplanken aufzeigen. Sie sind Coaches und Sparringspartner. Wir geben viel Verantwortung in die Teams. Nachhaltigkeit top-down durch eine Organisation zu steuern – das funktioniert nicht. Angesichts der hohen Komplexität reicht es nicht, wenn das die Geschäftsführung zu durchdenken versucht.
Nachhaltigkeit ist nicht nur eine inhaltliche Veränderung, sondern vor allem ein kultureller Transformationsprozess.
Was meinen Sie damit genau?
Echte Nachhaltigkeit ist ein ständiger Veränderungsprozess. Da wir Menschen aber so gepolt sind, dass wir Veränderung nicht besonders mögen, kommt es leicht zu Abwehrreaktionen. Und in der Praxis gibt es so viele Fallstricke. Da muss jeder aus der eigenen Expertise heraus darauf schauen, wie man das am besten löst. Es braucht unterschiedliche Perspektiven, die nur zusammenkommen, wenn man in diversen Teams zusammenarbeitet – vor allem interdisziplinär.
Ist das in den Unternehmen denn meistens wirklich gewährleistet?
Wir haben es sehr häufig mit Teams aus Vertretenden verschiedener Fachabteilungen zu tun. Und was ich besonders gut finde: Meistens sind sie auch interhierarchisch. Das heißt, dass Mitarbeitende mit Führungsverantwortung und ohne zusammenkommen.
Inwiefern vermittelt Vaude auch konkrete Nachhaltigkeitsexpertise – also etwa wie Nachhaltigkeit in verschiedenen Standards oder Zertifizierungstools definiert ist und wie sie gemessen wird?
Nicht direkt mit gezielten Kursen. Aber das spielt in der Strategieberatung und in den offenen Kursen schon eine Rolle. Letzteres ist allerdings eher noch ein kleines Pflänzchen. Zum Beispiel begleiten wir zwei Qualifizierungsverbände des Textilverbandes Südwest Textil. Das ist ein Peergroup-Learning-Format, bei dem sich die Teilnehmenden mit verschiedenen Nachhaltigkeitsthemen beschäftigen. Sie lernen untereinander. Das motiviert sie nicht nur, da kommen auch sehr wertvolle Sachen dabei heraus.
Vaude hat seit Kurzem eine Weiterbildung namens Anako, die in Kooperation mit dem Bundesinstitut für berufliche Bildung (BIBB) und mit der Bundesvereinigung Nachhaltigkeit angeboten wird. Was steckt dahinter?
Wir haben gemeinsam ein Konzept für eine Nachhaltigkeitsweiterbildung für Ausbilder entwickelt. Und dann fragten uns die Projektpartner, ob wir im Folgeprojekt mitmachen möchten, bei dem es darum geht, das Konzept konkret mit Leben zu füllen. Das hat mich sehr gefreut. Denn wenn wir das Thema Nachhaltigkeit ganzheitlich und systematisch angehen möchten, müssen wir beim Bildungssystem ansetzen. Deshalb beraten wir auch Schulen und Hochschulen. Auszubildende in den Berufsschulen lernen bisher fast nichts über Nachhaltigkeit. Und das sind doch die Menschen, die unsere Zukunft nachhaltig gestalten können, weil sie erst ins Arbeitsleben starten. So ist dieses Format entstanden. Inzwischen ist es aber von der Zielgruppe her breiter aufgestellt: Auch Beschäftigte, die sich für das Thema interessieren, können mitmachen.
Welche Kompetenzen brauchen Beschäftigte für das Thema Nachhaltigkeit?
Auf der inhaltlichen Seite ist das abhängig vom jeweiligen Fachgebiet. Egal ob Projektmanagement, Marketing oder Controlling – da gibt es jeweils eigene Nachhaltigkeitsinhalte, die zu berücksichtigen sind. Außerdem braucht es Komplexitätskompetenz und Kompetenzen im Umgang mit Zielkonflikten. Viele Unternehmen haben einen starken Fokus auf finanzielle Aspekte. Wenn man nachhaltig wirtschaften möchte, sollte man aber ökologische und soziale Aspekte gleichwertig berücksichtigen. Da sind Spannungsfelder vorprogrammiert. Häufig sind umweltfreundliche Materialien zum Beispiel deutlich teuer als konventionelle Alternativen. Da braucht es Kreativität und Lösungskompetenz.
Inwiefern bieten denn Unternehmen solche Weiterbildungen auch über ihr Firmenportfolio an?
Bei den Nachhaltigkeitsstrategien, die wir mitentwickelt haben, geht es immer in irgendeiner Form um Nachhaltigkeit als Inhalt für Weiterbildungsformate. Das kommt vor allem bei den konkreten Handlungsfeldern auf, die zur Zielerreichung beitragen sollen. Manche Unternehmen integrieren Nachhaltigkeit in ihr bestehendes Portfolio für bestimme Fachbereiche oder für Führungskräfte. Andere haben sich das Ziel gesetzt, Grundlagenschulungen zu Nachhaltigkeit aufzusetzen.
Was sollte zuerst kommen: Der individuelle Kompetenzaufbau oder der Strategieprozess?
Es braucht zunächst eine Bewusstseinsbildung – und die kommt über den Strategieprozess. Und dabei wird oft erst der Lernbedarf deutlich. Erst, wenn man darüber spricht, welche Menschen für welche Ziele verantwortlich sein sollen, kommt die Frage auf: Fühlen diese Leute sich eigentlich kompetent genug dafür? Es wäre nicht sehr praktikabel, das andersherum zu handhaben, also erst Kompetenzen aufzubauen und erst danach eine Strategie zu entwickeln. Häufig geht aber beides Hand in Hand.
Das heißt, man kann nachhaltiges Wirtschaften nicht theoretisch lernen?
Man braucht den Anwendungsfall, ja. Aber dennoch ist es sinnvoll, die Basics zu kennen – zum Beispiel wie man CO2-Ausstoß misst oder welche rechtlichen Vorgaben es gibt. Es ist wichtig, dass sich Menschen auch persönlich dafür interessieren. Deshalb sollten wir schon viel früher ansetzen: in der Schule und im Studium. Warum stehen da nur ökonomische Bilanzen auf dem Lehrplan? Warum erstellen wir da keine Klima-, Öko- oder Nachhaltigkeitsbilanzen? Auch der Umgang mit Komplexität wird in der Ausbildung meistens nicht vermittelt. Man stellt eine Aufgabe und dazu liefert man die eine richtige Lösung. Das ist total realitätsfern. Wir müssen den Kompetenzaufbau für Nachhaltigkeit in die Bildungssysteme integrieren.
Aktuell wächst der Druck von vielen Seiten, sich mit Nachhaltigkeit zu beschäftigen – vor allem durch gesetzliche Vorgaben und Erwartungen von Kund:innen oder Investor:innen. Aber genügt das Engagement, das Unternehmen bisher zeigen?
Damit die Erde lebenswert bleibt, muss nachhaltiges Wirtschaften Mainstream werden.
Nachhaltiges Wirtschaften muss eine unverzichtbare Business-Disziplin werden, die zum Unternehmertum elementar dazugehört, wie Controlling, Produktentwicklung, Vertrieb und Marketing.
Da sind wir noch nicht. Bei Vaude setzen wir uns sehr dafür ein, dass wir neue Regeln und Gesetze bekommen, die nachhaltiges Wirtschaften nicht benachteiligen, sondern ermöglichen. Das kann für viele Unternehmen ein Grund sein, sich damit zu beschäftigen. Wenn ich mich aber in Unternehmen umhöre, erzählen mir Führungskräfte immer häufiger etwas anderes: Auch sie haben Kinder und Enkelkinder. Sie spüren eine Verantwortung für die Zukunft. Das stimmt mich zuversichtlich.
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