Interview: Biodiversität als Teil der Geschäftsstrategie

Die im November 2022 verabschiedete Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) verpflichtet in den kommenden Jahren 50.000 Unternehmen in der Europäischen Union, ihren Biodiversitäts­-Fußabdruck zu berechnen und zu veröffentlichen. Davon sind auch 15.000 deutsche Unternehmen betroffen. Doch warum ist die Biodiversität so wichtig? Dr. Frauke Fischer, promovierte Biologin und Unternehmensberaterin, beantwortet die wichtigsten Fragen.

Frau Fischer, Sie sind promovierte Biologin und gleichzeitig Unternehmensberaterin für Biodiversität. Bitte erklären Sie uns diese ungewöhnliche Kombination.

Ich liebe die Wissenschaft, das tiefe Eintauchen und Sachverhalte, das Erarbeiten komplexer Zusammenhänge. Ich habe aber immer damit gehadert, dass viele Forschungsergebnisse nur Fachjournalen erscheinen und dann in der Bubble besprochen werden. Die Folgen von massiver Abholzung, ausuferndem Bergbau, der Überfischung der Meere, der Verschmutzung von Land und Ozeanen und der Umweltbelastung durch Überdüngung, Abwässer oder Pestizide wurden der Öffentlichkeit gegenüber nie drastisch genug kommuniziert. Die Folge war, dass sich viele Menschen zurücklehnten und dachten: Der Staat regelt das schon. Angesichts der dramatischen Lage unserer Natur haben wir aber nicht den Luxus, auf die Politik und ihre Lösungen zu warten. Und vor allem nicht auf die politischen Vertreter, die vor der nächsten Wahl große Versprechungen machen, dann aber nichts oder nur wenig davon umsetzen. Deshalb setze in dort an, wo ich neben der Politik den größten Einfluss sehe: bei den Unternehmen.

Welche Bereiche umfasst die Biodiversität denn überhaupt?

Viele verwenden den Begriff Biodiversität als Synonym für die Artenvielfalt in der Tier- und Pflanzenwelt. Die ist aber nur ein Teilaspekt. Es geht auch um den genetischen Reichtum innerhalb einzelner Arten und um die Vielfalt von Ökosystemen. Also insgesamt um die Vielfalt aller lebenden Organismen, Lebensräume und Ökosysteme.

Fischer, Frauke

Abhängigkeit von Ökosystemleistungen

Warum ist diese detaillierte Beschreibung so wichtig?

Weil wir von der Natur und den von ihr bereitgestellten Ökosystemleistungen abhängig sind.

Ökosystemleistungen?

Vereinfacht gesagt sind das die Dienstleistungen, die die Natur für uns Menschen erbringt, und das völlig kostenlos. Dazu gehören Versorgungsleistungen ­– also die Bereitstellung von Produkten, die wir direkt aus der Natur entnehmen: sauberes Trinkwasser, Fische oder Holz. Die zweite Gruppe sind Regulierungsleistungen wie die des Klimas, der Schutz vor Erosion oder der Erhalt globaler Wasserkreisläufe. Dann gibt es die Basisleistungen, das sind die Photosynthese, die Bereitstellung fruchtbarer Böden oder die Aufrechterhaltung globaler Nährstoffkreisläufe. Und die vierte Gruppe sind kulturelle Leistungen wie die Schönheit und Spiritualität der Natur, die uns Menschen dabei helfen, gesund zu bleiben oder es wieder zu werden.

Aber kann man diesen Leistungen einen tatsächlichen Wert zuweisen?

Tatsächlich. 2011 betrug der wirtschaftliche Nutzen der Biodiversität zwischen 170 und 190 Billionen US-Dollar. Das war in etwa doppelt so viel wie das weltweite Bruttosozialprodukt im selben Jahr. Wir wissen auch, dass 60 Prozent der Wirtschaftsleistungen, egal in welchem Land der Erde, direkt oder indirekt abhängig von den Leistungen der Natur sind. Gleichzeitig investieren wir aber weniger als 0,2 Prozent des weltweiten Bruttosozialprodukts in den Schutz von Natur. Und nach Schätzungen der Weltbank könnte der Biodiversitätsverlust die globale Wirtschaft bis 2030 jährlich 2,7 Billionen US-Dollar kosten. Wir sollten den Schutz intakter Ökosysteme also endlich als wichtigen Wirtschaftsfaktor betrachten.

Nach Schätzungen der Weltbank könnte der Biodiversitätsverlust die globale Wirtschaft bis 2030 jährlich 2,7 Billionen US-Dollar kosten.

Können Sie ein paar konkrete Beispiele kennen, welche Brachen davon betroffen sind?

Es gibt keinen Industrieprozess, der ohne Wasser auskommt. Die Atomreaktoren in Frankreich müssen mit Flusswasser gekühlt werden, Dürren können also ein ziemliches Sicherheitsrisiko werden. Viele Lieferketten hängen von der Binnenschifffahrt ab. Wir haben es ja 2022 erlebt, als der Rhein trockenfiel, da mussten viele Hersteller wochenlang auf ihre Rohstoffe warten. Selbst App-Entwickler sind davon betroffen. Ein einziger Laptop braucht in der Herstellung etwa 20.000 Liter Wasser. Wenn die fehlen, wird’s schwierig mit dem Programmieren.

Und abgesehen von der Wasserverfügbarkeit?

Ein aktuelles Beispiel ist vielleicht Kakao. Weil sich in Monokulturen in Westafrika Krankheiten und „Schädlinge“ ausbreiten und Trockenheit die Pflanzen schwächt, ist die Kakaoernte um ein Drittel zurückgegangen, während der Preis zwischendurch um bis zu 300 Prozent gestiegen ist. Viele glauben, dass sich das wieder ändert, wenn die Trockenheit nachlässt. Aber die Zahl von Extremwetterlagen nimmt ja zu. Und was kaum jemand weiß: Kakaoblüten werden hauptsächlich von zwei Arten Bartmücken bestäubt. Wenn es diese Mücken aufgrund veränderter Klimabedingungen nicht mehr gibt, gibt es auch keine bezahlbare Schokolade mehr. Bei einer globalen Erderwärmung um 1,5 Grad, liegt der Anteil der Tier- und Pflanzenarten mit hohem Aussterberisiko bei vier Prozent. Bei einer Erwärmung um drei Grad liegt der Anteil bei 26 Prozent. Das Problem ist, dass es zwischen Klima und Biodiversität eine fatale Wechselwirkung gibt: Die Klimakrise verstärkt das Artensterben – und das Artensterben wiederum befeuert die Klimakrise. Ein Teufelskreis. Dann reden wir irgendwann nicht mehr von einem Mangel an Schokolade, sondern über Nahrungsmittelknappheit, geopolitische Auseinandersetzung um wichtige Ressourcen, Kämpfe um fruchtbares Land, Flüchtlingsbewegungen und so weiter.

Die Klimakrise verstärkt das Artensterben – und das Artensterben wiederum befeuert die Klimakrise.

Das hört sich ja jetzt ziemlich dramatisch an…

… entspricht aber der Realität. Ich sag es mal so: Das Klima bestimmt, wie wir in Zukunft leben. Ohne Biodiversität ist nicht klar, ob wir überhaupt noch leben. Die Natur schlägt auch auf ganz andere Art zurück: Durch den Verlust vieler Lebensräume, rücken sich wilde Tiere und Menschen immer mehr auf den Pelz. Die Zahl der Zoonosen – der Infektionskrankheiten, die von Tieren auf Menschen übertragen werden – nimmt entsprechend zu. Jedes Jahr kommen im Schnitt fünf neuen Krankheiten dazu. Und ein Drittel davon gehen direkt auf die Zerstörung tropischer Regenwälder zurück. Alle haben das Potenzial, sich um die gesamte Welt zu verteilen. Wir haben also nicht eine Pandemie hinter uns, wir befinden uns vor der nächsten Pandemie. Und auch die wird gewaltige Auswirkungen auf unsere Wirtschaft und Gesellschaft haben.

Biodiversität als Bestandteil der Geschäftsstrategie

Warum haben die Entscheider in Politik und Wirtschaft sich so lange geweigert, diese Realitäten anzuerkennen?

Das Thema Biodiversität ist einfach sehr komplex, da gibt es leider keine einfache Kennzahl wie den CO2-Fußabdruck. Sein Äquivalent für die Biodiversität muss direkt vor Ort ermittelt werden, manchmal bei Tausenden Lieferanten und Rohstoffproduzenten. Das ist ein Mammutaufgabe, die viele Unternehmen abgeschreckt hat. Viele Menschen glauben auch immer noch, dass sich die zerstörte Natur einfach wieder reparieren lässt, indem man ein paar Bäume pflanzt. Die Flora und Fauna eines Urwaldes, die sich über Jahrmillionen aufgebaut hat, kann man aber nicht so einfach ersetzen. Es fehlt aber auch einfach an Weitsicht. Erst vor kurzem musste ich dem Digitalisierungsexperten eines Hidden Champion erklären, dass Indien nicht der ihm erhoffe Zukunftsmarkt ist. Klar, die Arbeitsplätze sind alle schön günstig. Aber in den letzten Wochen und Monaten herrschen da teilweise 50 Grad. Das ist selbst für den Sommer ungewöhnlich. Und in den kommenden zehn Jahren wird sich die Lage noch verschärfen. Da kann also bald niemand mehr arbeiten. Zum Glück sind andere Unternehmen da schon weiter in ihrem Verständnis.

Woher kommt der Sinneswandel?

Viele haben verstanden, dass Lieferausfälle oder Strafzölle für umweltschädliche Rohstoffe massive Umsatzeinbußen drohen und sehen das Thema Biodiversität als zentralen Bestandteil ihrer Geschäftsstrategie. Wir beraten zum Beispiel Weltkonzerne, bei denen die Aktionäre richtig Druck machen. Wir haben aber auch eine Familienunternehmerin als Kundin, die so heißt wie ihr Produkt und nicht möchte, dass ihr Name durch den Dreck gezogen wird. Vor allem durch die sozialen Medien ist der öffentliche Druck wahnsinnig gewachsen. Wenn etwas faul ist in der Produktion oder der Lieferkette, bekommt das von jetzt auf gleich die ganze Welt mit. In der EU gibt es dann natürlich noch die Pflicht zur Nachhaltigkeitsberichterstattung, in die Biodiversitätsparameter mit einfließen. Die Gründe sind also unterschiedlich.

Mit welchen Maßnahmen setzen Sie bei den Unternehmen an?

Eine Standardaufgabe gibt es nicht. Jedes Unternehmen hat sein Kerngeschäft in einem anderen Bereich. Ich bin erst mal dafür da, dass meine Kundinnen und Kunden das Thema überhaupt durchdringend und verstehen, welche Hebel sie selbst in Bewegung setzen können. Als Abteilung von Volkwagen hat zum Bespiel der VfL Wolfsburg kaum Einfluss darauf wo und mit welchen Materialien das Stadion gebaut wird, da fällt die Entscheidung beim Mutterkonzern. Der Fußballverein hat aber durchaus einen Einfluss darauf, ob das Catering fleischlos ist, die Beleuchtung aus erneuerbaren Energien kommt und ob die Merchandising-Artikel umweltfreundlich und fair produziert wird. Bei Unternehmen wie der Modemarke Hessnatur, die ihre Biobaumwolle aus aller Welt bezieht, oder der Brauerei Krombacher, die viele Umweltschutzprojekte unterstützt, stellen sich natürlich ganz andere Fragen. Wir schauen also ganz genau auf die Sektoren, bei denen das Unternehmen von Biodiversität abhängig ist oder selbst auf Biodiversität einwirkt. Und mithilfe einer Ampellogik identifizieren wir dann die Felder, bei denen im Kerngeschäft Handlungsbedarf besteht oder nicht. Wenn ein Unternehmen nicht mehr machen kann, als es ohnehin schon tut, seinen Umwelteinfluss aber weiter reduzieren wollen, unterstützen wir dann bei der Suche nach einem guten NGO-Partner, mit dem man das dann zusammen umsetzen könnte.

Wie kann man Unternehmen zusätzlich motivieren, sich für Biodiversität stark zu machen?

Ganz ohne politischen Druck geht es nicht. In Sachen Klimaschutz gibt es zum Beispiel die CO2-Zertifikate: Wer also weiter Treibhausgase in die Luft bläst, muss zahlen. In Bezug auf Biodiversität gibt es so etwas leider noch nicht. Immerhin müssen Importeure von Soja, Kaffee oder Kakao ab 2025 in der EU nachweisen, dass ihre Produkte aus entwaldungsfreien Gebieten stammen. Sekundärwälder – also nach einer Rodung entstandene Wälder – sind von der Regelung zwar bislang ausgenommen, aber es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Vielleicht sollte man manchen Branchen aber auch mal Subventionen streichen, industrieller Fischfang oder konventionelle Landwirtschaft sind oft nur durch massive Subventionen wirtschaftlich tragfähig, tragen aber massiv zum Verlust von Biodiversität bei. Wenn dieses Geld nicht mehr fließt, werden zerstörerische Geschäftsmodelle rasch vom Markt verschwinden. Meine These: In zehn Jahren wird es kein Unternehmen geben, das sich nicht mit diesem Thema beschäftigt – freiwillig oder unfreiwillig.

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Frauke Fischer, 58, hat Biologie mit dem Hauptfach Zoologie studiert und dann im Fach Tropenbiologie promoviert. Neben ihrer Tätigkeit als Dozentin für internationalen Naturschutz an der Universität Würzburg hat sie 2003 mit der Agentur auf! Deutschlands erste Unternehmensberatung mit einem Fokus auf Biodiversität gegründet. 2015 kam zu Fischers wissenschaftlicher Tätigkeit noch das Start-up PERÚ PURO dazu, das Kaffee und Kakao aus Biodiversitätsschutzprojekten in Peru vertreibt.