Herr Diaz, alle Welt redet vom Artensterben. Schaut man sich aber die European Sustainability Reporting Standards (ESRS) an, beziehen sich von den insgesamt 1178 Datenabfragen nur 119 auf die Themen Biodiversität und Ökosystemleistungen. Ist Biodiversität ein vernachlässigtes ESG-Thema?
Auf jeden Fall. Ursprünglich war der Standard ESRS E4, der den Naturverlust oder den Naturwandel in den Nachhaltigkeitsberichten abbilden soll, viel umfangreicher ausgelegt. Jetzt aber spielt er eine eher untergeordnete Rolle. Dabei ist der Verlust der Vielfalt in der Natur ein wichtiger Treiber der Erderwärmung. Dem E4-Standard sollte also eigentlich eine größere Bedeutung zukommen als dem E1, der lediglich die Verursachung der Klimakrise betrachtet. Eine Folge: Laut einer Studie des Umweltbundesamts hat 2019 nur ein Prozent der Unternehmen halbwegs solide über seine Auswirkungen auf die Biodiversität berichtet.
Wie erklären Sie sich die Schieflage?
Viele können oder wollen die weltweiten Zusammenhänge zwischen Biodiversität und Klimawandel nicht erkennen. CO₂-Äquivalente lassen sich relativ leicht messen. Den meisten ist jedoch unklar, was beispielsweise das Abholzen und Absterben von Bäumen – ob durch Menschenhand oder invasive Arten – mit der Stabilität von Böden zu tun haben. Wenn dann bei Unwettern und Starkregen die Berghänge abrutschen und Häuser oder ganze Dörfer unter sich begraben, sind auf einmal alle ganz überrascht, betroffen und tun so, als könnte man nichts dagegen tun. Dass das nicht nur ein lokales Ereignis ist, sondern das Ergebnis teils komplexer Ketten von Ursachen und Wirkung, darüber spricht niemand.
Biodiversität messbar machen
Das heißt, Tier- und Pflanzenarten, die verdrängt werden oder aussterben, können am Ende ganze Ökosysteme zum Kippen bringen. Kann man sowas überhaupt messen?
Natürlich. In Sachen Artenschutz denken leider viele sehr vereinfacht an die Zahl von Honigbienen. Die aber schaden der Biodiversität in der Masse sogar mehr, als dass sie ihr nützen. Sie verdrängen Wildbienen aus deren Lebensräumen und schränken so Vielfalt und Bestäubungsleistung ein. Ein guter Indikator für Biodiversität wäre dagegen die Menge an Regenwürmern auf einem Quadratmeter Land. Vereinfacht könnte man sagen: Je mehr Würmer, desto gesünder der Boden und das gesamte Ökosystem. Für die Bemessung der Biodiversität gibt es inzwischen auch komplexere Metriken wie die Mean Species Abundance, die die optimale Vielfalt der Arten in einem Gebiet bestimmt und dann die Differenz zur tatsächlichen Artenvielfalt ausweist. Unternehmen und Finanzinstitute in Frankreich und den Niederlanden führen dazu bereits Pilotprojekte durch, teilweise mit vielversprechenden Ergebnissen. In Deutschland agiert man hingegen sehr zögerlich.
Warum ist das so?
Deutschland ist eine Export-Nation. Die meisten Rohstoffe für die Güter, die wir produzieren und in alle Welt verkaufen, kommen aus anderen Ländern. Die Umweltzerstörung und -verschmutzung findet also oft im Kongo statt, in China oder Chile. Das bekommen wir nie direkt zu sehen und zu spüren. Den Naturschutz auch in der Lieferkette ernst zu nehmen, würde aber das Erfolgsmodell Exportnation in Frage stellen. Deswegen tun sich viele Entscheider in Wirtschaft und Politik schwer, Verantwortung für den Schutz der Biodiversität zu übernehmen. Was viele noch immer nicht verstehen: Wenn wir nicht auch bei der Biodiversitätskrise schnell ins Handeln kommen, wenn die Natur erst einmal kaputt ist, ist der wirtschaftliche Schaden am Ende noch viel größer als die Kosten für den Naturschutz.
Wie lässt sich dieses Mindset ändern?
Ganz grundsätzlich sollten die Unternehmen und Finanzinstitute ihre Erwartungshaltung gegenüber der Nachhaltigkeitsberichterstattung ändern. Ich höre sie immer nur klagen, dass die Berichte so viele Ressourcen benötigen. Meine Gegenfrage lautet dann immer: Wer hat denn behauptet, dass Nachhaltigkeitsberichterstattung einfach ist? Bei der Finanzberichterstattung erwartet schließlich auch niemand, dass das innerhalb weniger Tage von einer Handvoll Menschen erledigt wird. Und Biodiversität ist so viel komplexer als das Auflisten von ein paar Boni. Einfach nur den Wasserverbrauch zu kalkulieren und das dann mit Bäumepflanzen zu kompensieren, damit kommt man nicht weit. Natur ist vielschichtig und lässt sich nicht einfach verrechnen, so wie man das beim Klimaschutz versucht. Theoretisch müsste man jeden einzelnen Unternehmensstandort analysieren, den von jedem Partner und Zulieferer, deren Auswirkungen auf Lebensräume von Tier- und Pflanzenarten, die Auswirkungen auf den örtlichen Grundwasserspiegel, die Folgen einer möglichen Verunreinigung. Über die Wertschöpfungskette hinweg ist das schwer möglich, aber dafür gibt es risikobasierte Ansätze und Instrumente. Bei der Biodiversität geht es um den lokalen Kontext. Und das ist nur die Berichterstattung. Die Komplexität bleibt.
Ergeben sich durch die Berichterstattungspflicht auch Vorteile für Unternehmen?
Ich halte nicht viel von dem Narrativ, dass Nachhaltigkeit gut für die Wirtschaft ist. Das ist sie nämlich nicht. Zumindest nicht, wenn man auf kurz- oder mittelfristige Profitabilität schielt. Ich kann sogar nachvollziehen, dass viele Unternehmen da stöhnen. Die Finanzberichterstattung zum Beispiel ermöglicht einem den Zugang zu Kapitalmärkten, zu mehr Geld. Das ist gut fürs Geschäft. Die Offenlegung der Umwelteinflüsse hingegen bringt erst einmal keine direkten Vorteile und offenbart, wenn man wirklich transparent damit umgeht, eher die verursachten Schäden. Das ist schlecht fürs Image. Der Reputationsgewinn durch die Berichte wird meiner Meinung nach aber ohnehin überbewertet. Auch die Risikoperspektive, die gerne als Vorteil herangezogen wird, passt meiner Meinung nach nicht zur Logik unserer Wirtschaft. Aus rein betriebswirtschaftlicher Sicht ergeben die Berichtserstattungspflicht und der Naturschutz im Allgemeinen also wenig Sinn. Am Ende geht es aber um den Erhalt unserer Lebensgrundlagen. Da darf die Wirtschaft nicht immer priorisiert werden. Wenn die Berichtspflicht und die sich daraus ergebenden Konsequenzen ansatzweise effektiv sein sollen, muss es wehtun.
Wie effektiv finden Sie die derzeitigen Rahmenbedingungen?
Es ist super, dass viele Unternehmen schon den Richtlinien der Global Reporting Initiative GRI folgten, das macht es jetzt einfacher. Wir hätten schon früher dezidierte – von der Regulatorik vorgegebene – Standards haben können und jetzt weniger Eile. Aber unter der NFRD wurden dezidierte Standards noch von Industrieverbänden blockiert. Und gerade in Bezug auf die Biodiversität sind die Gesetzesvorlagen noch immer nicht so detailliert ausgearbeitet, wie sie sein sollten. Zudem hat die EU-Kommission Anfang 2023 noch festgelegt, dass einige Angaben nicht verpflichtend sind. Im Endeffekt bedeutet das, dass Unternehmen jetzt selbst darüber entscheiden dürfen, welche Aspekte wesentlich für die Berichtserstattung sind und welche nicht. Sie können also mehr oder weniger reinschreiben, was sie wollen. Ich nehme gerne das Beispiel von Banco Santander, die beispielsweise keine Klimarisiken und nur Klimamöglichkeiten haben. Das öffnet natürlich Tür und Tor für Greenwashing.
Aber es gibt doch noch die Berichtsprüfer…
… die in vielen Fällen keine gute Arbeit verrichten. Denen mangelt es leider oft genauso an Nachhaltigkeitskompetenz wie den Unternehmen. Und viel schlimmer noch: Oft befinden sich die Prüfer in einem Interessenskonflikt. Wenn sie nämlich zu den großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften gehören, werden sie wohl kaum die Methoden hinterfragen, nach denen ihre Kolleginnen und Kollegen Unternehmen beraten haben. So eine Form der Selbstkontrolle kann nur schiefgehen.
Hilfreiche Datenbanken und Tools zu Biodiversität
Das hört sich eher ernüchternd an. Gibt es denn keine Praktiken oder Tools, an denen man sich guten Gewissens orientieren kann?
Doch. Ein guter Start ist die Wissensdatenbank ENCORE [herausgegeben vom Umweltprogramm der Vereinten Nationen UNEP, Anmerkung d. Red.]. Für viele Geschäftsfelder erhält man hier einen groben Überblick über die Abhängigkeiten von oder Auswirkungen auf die Umwelt. Der WWF bietet außerdem das Tool Biodiversity Risk Filter an: Der zeigt an, mit welchen umweltbezogenen Problemen, regulatorischen Herausforderungen und Imageschäden an den jeweiligen Unternehmensstandorten zu rechnen ist. Die Species Threat Abatement and Restoration Metric verrät einem sogar, ob und welche bedrohten Arten es in der unmittelbaren Umgebung gibt. Und die KI-gestützte Analyseplattform Kuyua, die ich Anfang 2024 beratend unterstützt habe, vereint viele solcher Datensätze. Sie bezieht sogar relevante Biodiversitätsrisiken sämtlicher Partner in der Lieferkette mit ein und schlägt sogar noch konkrete Maßnahmen vor, die die Biodiversität vor Ort effektiv schützen.
Es gibt also noch Hoffnung?
Durchaus. Die ESRS-Standards werden zukünftig überarbeitet. Viele Initiativen, Organisationen versuchen jetzt schon inhaltliche Lücken wie die des Transformationsplans zu Biodiversität zu schließen. Der E4-Standard wird in Zukunft eine wichtigere Rolle einnehmen. Natürlich wäre auch sehr hilfreich, wenn man den Naturschutz profitabel für die Wirtschaft machen könnte. Das Problem dabei ist, dass es weltweit beispielsweise nur eine begrenzte Anzahl an Mangrovenwäldern gibt, die man erfolgreich renaturieren kann. Solche nicht skalierbaren Prozesse in gängige ökonomische Modelle zu pressen, ist schwierig. Dafür müssten wir unsere Art und Weise zu wirtschaften völlig neu denken.
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Philippe Diaz, 37, studierte International Business und Nachhaltige Entwicklung im englischen Leeds und schwedischen Uppsala, bevor er als Unternehmensberater und Strategieentwickler im Mittleren Osten und Nordafrika für die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young und als Experte für nachhaltige Finanzen beim WWF Deutschland tätig war. Heute bringt er seine Expertise bei der European Financial Reporting Advisory Group (EFRAG) in Brüssel ein, die als nicht-gewinnorientierter Verein die Europäischen Nachhaltigkeitsberichterstattungsstandards mitentwickelt. Als unabhängiger Experte vertritt er in diesem Interview aber seine eigene Perspektive. |