Studie: Sind Arbeitszeugnisse aussagekräftig und valide?

Arbeitszeugnisse gehören zu den zentralen Elementen der Bewerbungs­­­unterlagen. Eine aktuelle Studie beschäftigt sich mit der Frage, wie Arbeits­zeugnisse erstellt und gesichtet werden. Die Ergeb­nisse stellen die Aussagekraft von Arbeits­zeugnissen infrage.

Der Vorauswahl von Bewerbern kommt eine große Bedeutung zu, die leicht unterschätzt wird. Fehler, die bei der Vorauswahl unterlaufen, lassen sich nicht vollständig durch nachfolgende Auswahlmethoden wie Einstellungsinterviews oder Assessment Center ausgleichen. Werden Bewerber in der Vorauswahl überschätzt (= "Fehler der ersten Art"), so lässt sich die Fehleinschätzung im weiteren Verlauf des Auswahlverfahrens aufdecken. Bei einer Unterschätzung eines Bewerbers auf der Grundlage seiner Bewerbungsunterlagen (= "Fehler der zweiten Art") sieht dies jedoch ganz anders aus. Der Bewerber scheidet oft sofort aus dem gesamten Verfahren aus und hat daher auch keine Chance, seine tatsächliche Eignung unter Beweis zu stellen. Insbesondere in Zeiten des Fachkräftemangels können sich viele Unternehmen den Fehler der zweiten Art eigentlich gar nicht mehr erlauben. Umso wichtiger ist es, dass die Vorauswahl eine möglichst valide Einschätzung der Bewerber liefert.

Problematische Aspekte von Arbeitszeugnissen

In den meisten Unternehmen beschränkt sich die Vorauswahl auf eine Sichtung der Bewerbungsunterlagen. Dabei wird Arbeitszeugnissen eine große Bedeutung beigemessen. Eine Befragung von mehr als 240 Unternehmen ergab, dass sich 82 Prozent der Arbeitgeber für die Bewertung der Arbeitsleistung und 65 Prozent für die Charakterisierung der Persönlichkeit von Bewerbern im Arbeitszeugnis interessieren (Kanning, 2016).

Prinzipiell könnten Arbeitszeugnisse aussagekräftige Informationen über einen Bewerber liefern. Schließlich hat der frühere Arbeitgeber die Person mitunter über Jahre hinweg im Arbeitsalltag erlebt. Bei näherer Betrachtung offenbaren sich jedoch auch zahlreiche Probleme:

  1. Die Aussagen beziehen sich immer auf das Verhalten in einem bestimmten Arbeitskontext. Es ist nicht zu erwarten, dass ein Arbeitnehmer dasselbe Verhalten an einem neuen Arbeitsplatz zeigt, wenn sich beispielsweise die Arbeitsinhalte, die Kollegen und auch noch der Führungsstil stark verändern.
  2. Die Beurteilungen durch direkte Vorgesetzte basieren in der Regel nicht auf diagnostisch ausgereiften Messinstrumenten, sondern stellen subjektive Einschätzungen dar, die die Realität verzerrt widerspiegeln.
  3. Der Gesetzgeber verbietet explizit negative Charakterisierungen im Arbeitszeugnis. Viele Zeugnisse stellen die Leistung der Arbeitnehmer daher in beschönigender Weise dar.
  4. Daraufhin hat sich eine Art "Zeugnissprache" entwickelt, bei der beispielsweise über sprachliche Verschleierungstechniken der Versuch unternommen wird, negative Botschaften verdeckt zu vermitteln (Weuster & Scherer, 2015). Im Einzelfall bleibt jedoch unklar, inwieweit der Verfasser eines Zeugnisses derartige Techniken tatsächlich eingesetzt hat und ob der Leser des Zeugnisses die Hinweise richtig deutet.
  5. Der Einsatz von Textbausteinen oder Softwarelösungen schafft auf der einen Seite Standardisierung, führt auf der anderen Seite aber dazu, dass die Individualität des einzelnen Arbeitnehmers ein Stück weit verloren geht. 

Die Aussagekraft von Arbeitszeugnissen steht und fällt mit der Qualität ihrer Erstellung durch den derzeitigen Arbeitgeber sowie der Qualität ihrer Sichtung durch künftige Arbeitgeber. Bislang ist über beide Prozesse nur wenig bekannt. Hier setzt die vorliegende Studie an.

Methodik der Studie zu Arbeitszeugnissen

Die Studie basiert auf einem Online-Fragebogen, der über soziale Netzwerke an Menschen verteilt wurde, die sich beruflich mit der Erstellung und Sichtung von Arbeitszeugnissen beschäftigen. Er umfasst vier Bereiche: 

  1. Fragen zur Existenz verbindlicher Kriterien bei der Sichtung von Arbeitszeugnissen. 
  2. Eingesetzte Hilfsmittel bei der Erstellung von Arbeitszeugnissen (zum Beispiel Textbausteine). 
  3. Bedeutung spezifischer Kriterien bei der Erstellung und Sichtung von Arbeitszeugnissen (zum Beispiel Beschäftigungsdauer des Arbeitnehmers). 
  4. Bedeutung von Verschleierungstechniken, die bei der Erstellung und Sichtung von Zeugnissen zum Einsatz kommen. 

Zusätzlich werden Daten zur Demographie (Geschlecht, Alter, Berufserfahrung, Unternehmensgröße) erfasst. Die Antworten zu den meisten Fragen erfolgt auf einer vierstufigen Antwortskala (1 = "trifft überhaupt nicht zu" bis 4 = "trifft voll und ganz zu").

An der Studie beteiligen sich 119 Personen (53,8 Prozent weiblich; Durchschnittsalter 40 Jahre). Die meisten (52,9 Prozent) arbeiten in großen Unternehmen mit mehr als 249 Mitarbeitern (25,2 Prozent in Unternehmen mit 50-249 Mitarbeitern und 21,8 Prozent in Unternehmen mit weniger als 50 Mitarbeitern). 112 der Befragten sind im Berufsalltag mit der Sichtung von Arbeitszeugnissen betraut (durchschnittlich 124 Zeugnisse pro Jahr), während 95 Personen auch selbst Arbeitszeugnisse schreiben (durchschnittlich 19 pro Jahr). 

Keine verbindlichen Kriterien zur Sichtung

Im ersten Schritt geht es um die Frage, inwieweit im eigenen Unternehmen verbindliche Kriterien zur Sichtung von Arbeitszeugnissen existieren. 66 Prozent der Befragten geben an, dass keinerlei Verbindlichkeit vorliege. Die Person, die das Arbeitszeugnis liest, entscheidet frei darüber, welche Informationen aus dem Arbeitszeugnis in ihre Beurteilung eines Bewerbers einfließen. Weitere 31 Prozent geben an, dass es nur einige wenige verbindliche Kriterien gäbe (zum Beispiel Einschlägigkeit der Berufserfahrung), darüber hinaus entscheidet die Person, die das Arbeitszeugnis sichtet, frei, welche Informationen sie heranzieht und wie sie diese interpretiert. In lediglich drei Prozent der Fälle sind alle Kriterien zur Bewertung der Bewerber vorgegeben.

Formalisiertes Vorgehen bei der Zeugniserstellung

Abb. 1: Hilfsmittel bei der Zeugniserstellung

Die Abbildung 1 gibt wieder, welche Hilfsmittel bei der Erstellung von Arbeitszeugnissen zum Einsatz kommen. 75 Prozent der Befragten greifen auf Textbausteine zurück, wodurch einerseits die Individualität der Zeugnisse Einbußen erleiden, andererseits aber auch eine gewisse Rechtssicherheit der Zeugnisse gewährleistet wird. Gleichwohl lassen sich 50 Prozent (auch) von ihrem Bauchurteil leiten, wodurch die Validität eignungsdiagnos­tischer Instrumente leidet (Kanning, 2018). Nur 22 Prozent berücksichtigen bei der Erstellung von Arbeitszeugnissen Forschungsergebnisse, die ihnen beispielsweise dabei helfen könnten, zu valideren Einschätzungen eines Kandidaten zu kommen. Insgesamt sprechen die Ergebnisse für ein sehr formalisiertes Vorgehen, bei dem das primäre Ziel darin besteht, rechtskonforme Arbeitszeug­nisse zu produzieren, deren Erstellung möglichst wenig Arbeit bereitet.


In einem dritten Schritt gehen wir der Frage nach, welche Bedeutung verschiedene arbeitsbezogene Kriterien bei der Erstellung und Sichtung von Arbeitszeugnissen spielen. Abbildung 2 gibt die Ergebnisse für elf Kriterien wieder, die im Fragebogen vorgegeben wurden. Alle Kriterien sind offensichtlich von Bedeutung. Die Mittelwerte liegen jeweils oberhalb der Skalenmitte (2,5 Punkte).

Besonders wichtig ist den Befragten bei der Erstellung von Zeugnissen, das Können und die Motivation des Mitarbeiters hervorzuheben sowie die Arbeitsaufgaben und die individuelle Arbeitsweise darzustellen. Fast alle Kriterien sind für die Befragten signifikant bedeutsamer, wenn sie selbst Zeugnisse schreiben, im Vergleich zur Interpretation von Zeugnissen, die andere Arbeitgeber verfasst haben. Entgegengesetzt verhält es sich lediglich bei der Beschäftigungsdauer und dem Grund für die Beendigung eines Beschäftigungsverhältnisses. Die Zufriedenheitsformel erscheint aus beiden Perspektiven gleichermaßen relevant. Alles in allem geben die Befragten beim Formulieren von Zeugnissen den Kriterien ein signifikant anderes Gewicht als beim Sichten von Arbeitszeugnissen. 

Abb. 2: Kriterien bei der Zeugniserstellung

Abb. 3: Verschleierungstechniken

Arbeitszeugnisse: Umgang mit Verschleierungstechniken

Im vierten und letzten Schritt wird untersucht, inwieweit Verschleierungstechniken beim Schreiben und Interpretieren von Arbeitszeugnissen eine Rolle spielen (Abbildung 3). Bei allen untersuchten Verschleierungstechniken zeigt sich ein signifikanter Unterschied. Bei der Erstellung von Arbeitszeugnissen spielen sie eine weitaus geringere Bedeutung als bei der Sichtung von Zeugnissen, die andere Arbeitgeber geschrieben haben. Die Verantwortlichen gehen möglicherweise davon aus, dass andere Arbeitgeber in stärkerem Maße Verschleierungstechniken einsetzen als sie selbst.

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass bei der Erstellung von Arbeitszeugnissen die Rechtskonformität offenbar im Zentrum der Bemühungen steht. Hierbei helfen Vorlagen alter Zeugnisse, Textbausteine, die Ratgeberliteratur sowie Softwarelösungen. In Anbetracht der Vielzahl juristischer Auseinandersetzungen ist dies verständlich. Wahrscheinlich bleibt dabei aber auch ein Großteil der potenziellen Validität von Arbeitszeugnissen auf der Strecke, weil Arbeitszeugnisse die Leistung und Fähigkeiten der Arbeitnehmer uniformer darstellen als es der Realität entspricht. Hinzu kommt, dass die Einschätzung der Kandidaten in starkem Maße auf einem "Bauchgefühl" basiert. Ein und derselbe Bewerber wird daher unterschiedlich bewertet, je nachdem, wer das Arbeitszeugnis liest. 

In fast allen untersuchten Kriterien zeigen sich signifikante Unterschiede zwischen dem Verfassen von Arbeitszeugnissen und ihrer Interpretation. Besonders deutlich tritt dieser Effekt bei der Verschleierungstechnik hervor. Dies bedeutet, dass die Verantwortungsträger in den Unternehmen mehr in die Arbeitszeugnisse hineininterpretieren, als die Verfasser selbst hineingelegt haben.    

Fazit: Keine valide Methode zur Einschätzung von Bewerbern

Fassen wir alle Probleme, die mit der Erstellung und Sichtung von Arbeitszeugnissen verbunden sind, zusammen, so dürften sie insgesamt betrachtet, keine sonderlich valide Methode zur Einschätzung von Bewerbern darstellen. Wer die Gefahr einer Fehleinschätzung von Bewerbern in diesem frühen Stadium der Personalauswahl reduzieren möchte und sich insbesondere gegen den Fehler der zweiten Art absichern will, ist gut beraten, Arbeitszeugnissen keinen hohen Stellenwert beizumessen. Der Beschreibung der früheren Tätigkeiten erscheint dabei weitaus weniger problematisch als die Bewertung der Person.


Literatur
Kanning, U. P. (2016): Über die Sichtung von Bewerbungsunterlagen in der Praxis der Personalauswahl. Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie, 60, 18-32.

Kanning, U. P. (2018): Standards der Personaldiagnostik (2. überarbeitete und erweiterte Aufl.). Göttingen: Hogrefe

Weuster, A. & Scheer, B. (2015): Arbeitszeugnisse in Textbausteinen: Rationelle Erstellung, Analyse, Rechtsfragen (12. Aufl.). Stuttgart: Boorberg.


Dieser Beitrag ist in Personalmagazin 11/2020 erschienen. Lesen Sie die gesamte Ausgabe auch in der Personalmagazin-App.


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