Testamentsauslegung kann - trotz klarer Worte - entgegen dem Wortlaut erfolgen
Wer erbt? Die Staatskasse oder der Bruder?
In dem abschließend vom OLG Stuttgart entschiedenen Nachlass-Rechtsstreit standen sich der Fiskus und der Bruder der Erblasserin gegenüber. Beide beanspruchten das beachtliche Erbe für sich. Der Streit, der im Instanzenzug unterschiedlich bewertet wurde, drehte sich um ein 2007 aufgesetztes Testament.
Letzter Wille begleitet von schmerzerfüllten Worten
Die Erblasserin rechnete in ihrem Testament mit der Verwandtschaft ab, drückte v.a. ihre verletzten Gefühle darüber aus, wie man mit ihrem Vertriebenenschicksal umgegangen war:
„… Die Familie… war mitleidlos gegenüber unserem Vertreibungsschicksal. „Man muss doch mal vergessen können.“… Eine Aussage die wir von Einheimischen, die ihre Heimat behalten haben, hören mußten, die uns schwer verletzt hat!... Wir wurden von den Verwandten lächerlich gemacht! Das tut sehr weh!“
Klare Wortwahl im Testament: Ausschluss aller Verwandten
Für die von der Verstorbenen als herzlos empfundenen Äußerungen sollten ihre Angehörigen büßen oder jedenfalls nicht von ihrem Tod profitieren:
„… Meine letztwillige endgültige Bestimmung betr. unsere Hinterlassenschaft aus 40 Jahren entbehrungsvollen Hungerjahren: Ausgeschlossen sind alle Verwandten und angeheirateten Verwandten! ...“
Keine anderweitige Erbenbestimmung
Die Erblasserin bestimmte auch keinen anderen Erblasser in dem Schriftstück. Das ist möglich; es handelt sich dabei um ein sog. Negativtestament (§ 1938 BGB). Das rief die Staatskasse auf den Plan, die das Erbe für sich beanspruchte und deshalb mit dem Bruder stritt, der sich jedoch nicht als Teil der testamentarisch verunglimpften Verwandtschaft sah.
Staatskasse ist in der Regel die letzte Wahl eines Erblassers
Das OLG Stuttgart machte sich auf die Suche nach dem Wortsinn des Testaments. Es stellte dabei zunächst den allgemeinen Erfahrungssatz fest, dass Erblasser ihr Erbe eher einem Verwandten als dem Fiskus überlassen wollen. Die Richter untersuchten sodann anhand des gesamten geschriebenen Textes die Motive der Frau.
Bruder teilte das Schicksal der Vertreibung mit seiner verstorbenen Schwester
Es wurden im Testament zwei Fronten ausgemacht: der Personenkreis der „Verwandten“, dem die Empathie abhanden gekommen war auf der einen und „wir, die Vertriebenen“ auf der anderen Seite. Zu dem kleinen Familienkreis der Vertriebenen gehörten neben den vor ihr verstorbenen Eltern aber auch ihr einziges Geschwisterkind, der Bruder. Sehr deutlich wurde dies in dem Satz:
„Unser Leben ist eine offene Wunde sagte unsere leidgeprüfte tapfer geduldige Mutter!“
Erbe bleibt in der Familie
So kam der Bruder, der sich auch auf sein gutes Verhältnis zu seiner Schwester berief, in den Genuss ihres Erbes, obgleich sie ihn nicht ausdrücklich als Erben benannt, aber eben auch nicht enterbt hatte. Die Staatskasse ging dementsprechend leer aus.
(OLG Stuttgart, Beschluss v. 23.11.2020, 8 W 359/20).
Hintergrund: Grundsatz der individuellen Auslegung
Für die Auslegung von letztwilligen Verfügungen gilt nach der Rechtsprechung der Grundsatz, dass zur Feststellung des Erblasserwillens neben der Erklärung des Erblassers als Ausgangspunkt sämtliche außerhalb der Urkunde liegenden Umstände (z.B. sonstige Urkunden, äußere Gestaltung der Erklärungen, Lebens- und Vermögensverhältnisse des Testators, verwandtschaftliche Verhältnisse, Beziehungen der Beteiligten zueinander) heranzuzuziehen sind.
Gemäß § 133 BGB ist daher bei der Auslegung nicht an dem buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften. Eine Beschränkung der Analyse auf den Wortlaut wäre unzureichend. Daher sind alle außerhalb der Testamentsurkunde erkennbaren sog. Nebenumstände bei der Erforschung des wirklichen Willens des Erblassers in einer Gesamtschau zu berücksichtigen.
- Die Ermittlung des Erblasserwillens hat also auch Vorrang vor dem Wortlaut des Testaments mit angeblich "klarem und eindeutigem" Inhalt.
- Dies soll insbesondere dann gelten, wenn der Erklärende mit seinen Worten einen anderen Sinn verbunden hat, als es dem allgemeinen Sprachgebrauch entspricht.
Denn der Sprachgebrauch kann nicht immer so treffend sein, dass der Erblasser mit seiner Diktion genau das erklärt, was er zum Ausdruck bringen will (vgl. BGH NJW 1981, 1736; 1982, 672; BayObLG FamRZ 2002, 1746; OLG Hamm FGPrax 2014, 264).
Mit dieser umfassenden Ermittlung aller Gesamtumstände schon bei der sog. erläuternden Testamentsauslegung, die sich mit der "ergänzenden Auslegung" überschneiden kann, erhalten die Nachlassgerichte die Instrumentarien, dem Erblasserwillen bestmöglich gerecht zu werden, auch wenn dieser oft nur unzureichend in der Testamentsurkunde zum Ausdruck kommt bzw. "Anklang" findet.
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