Weiterleben unter Schmerzen durch nicht indizierte lebensverlängernde Maßnahmen ist kein Schaden
Mit seiner Entscheidung hat der BGH ein spektakuläres Urteil des OLG München von Ende 2017 aufgehoben.
- Das OLG hatte nach einer medizinisch nicht indizierten künstlichen Ernährung über mehrere Jahre mithilfe einer Magensonde nach dem Tod des Patienten
- dem klagenden Sohn Schmerzensgeld und Schadenersatz wegen einer sinnlosen, mit erheblichen Qualen verbundene Lebensverlängerung zugesprochen.
Nun musste der BGH darüber entscheiden.
Künstliche Ernährung medizinisch nicht mehr indiziert
Der Sohn und Alleinerbe machte gegenüber dem behandelnden Arzt Schadenersatzansprüche in Höhe von
- ca. 53.000 EUR für unnötige Pflegeheimkosten
- sowie Schmerzensgeld in Höhe von 100.000 EUR
geltend.
Er trug vor, dass die künstliche Ernährung spätestens ab Anfang 2010 medizinisch nicht mehr indiziert gewesen sei und er einer solchen auch nie zugestimmt habe.
Lebensverlängernde künstliche Ernährung = rechtwidriger körperlicher Eingriff?
Das Leiden des Vaters sei durch die lebenserhaltene Maßnahme nur sinnlos verlängert worden.
- Er habe in dieser Zeit schwer gelitten und sei nur noch verkrampft im Pflegebett gelegen.
- Der Sohn vertrat die Auffassung, die künstliche Ernährung stelle einen Behandlungsfehler dar.
- Statt dessen Vielmehr hätte der behandelnde Hausarzt das Sterben unter palliativmedizinischer Betreuung durch Beendigung der Sonderernährung zulassen müssen.
Zudem sei der Vater dadurch in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt worden.
Verlängerung des Leidens – Leben als „Schaden“
Der beklagte Arzt trat diesem Vorwurf entgegen und wies eine Pflichtverletzung zurück. Der Betreuer habe ausdrücklich eine Sondenernährung gewünscht.
Darüber hinaus gelte weiterhin der Grundsatz „in dubio pro vita“, im Zweifel für das Leben.
Das Landgericht München bejahte in erster Instanz einen Behandlungsfehler sowie einen Schaden. Im Ergebnis wurde ein Schadenersatzanspruch aber verneint, da die Kausalität zwischen Behandlungsfehler und „Schaden“, dem Weiterleben des Mannes, nach Ansicht des Gerichtes nicht nachgewiesen sei. Der Kläger legte gegen diese Entscheidung erfolgreich Berufung ein.
Verpflichtung des Arztes zur umfassenden Erörterung mit dem Betreuer
Der 1. Senat des OLG München (Urteil v. 21.12.2017, 1 U 454/17) bestätigte eine Pflichtverletzung des Behandlungsvertrages. Der Arzt wäre zur umfassenden Information des Betreuers nach § 1901 b Abs. 1 BGB verpflichtet gewesen. Trotz durchgeführter Beweisaufnahme konnte nicht geklärt werden, ob sich der Betreuer auch bei ordnungsgemäßer Erörterung für die Fortsetzung der künstlichen Ernährung entschieden hätte.
Beweislast des Arztes
Diesbezüglich sei jedoch der Arzt beweisbelastet, so das Oberlandesgericht. Die aus der Pflichtverletzung resultierende Lebensverlängerung könne, wie im vorliegenden Sachverhalt, einen Schaden darstellen.
„Die Verletzung des Integritätsinteresses eines Patienten, dem über einen längeren Zeitraum ohne wirksame Einwilligung mittels einer Magensonde Nahrung und Flüssigkeit verabreicht wird, könne für sich betrachtet bereits ein Schmerzensgeld rechtfertigen“,
so das Gericht. Einen Vermögensschaden für die unnötigen Heimkosten sahen hingegen die Richter nicht, da dieser vom Kläger nicht ausreichend dargelegt wurde.
Da der Schmerzensgeldanspruch nach Ansicht des Senats uneingeschränkt vererblich sei, könne dieser vom Sohn als Alleinerben geltend gemacht werden. Da beide Parteien Revision einlegten, hatte der BGH zu entscheiden.
BGH: Weiterleben ist kein Schaden
Der BGH teilte die Sichtweise des OLG nicht. Der für Arzthaftungssachen zuständige VI. Zivilsenat begründete seine Entscheidung mit grundsätzlichen Erwägungen zum Wert und zum Schutz des menschlichen Lebens.
- Ob der behandelnde Arzt - wie von beiden Vorinstanzen angenommen - seine ärztlichen Pflichten durch jahrelange, lebensverlängernde Maßnahmen verletzt hat, ließ der BGH offen.
- Ein Anspruch auf Zahlung von Schmerzensgeld kommt nach Auffassung des BGH schon deshalb nicht in Betracht,
- weil das Weiterleben kein immaterieller Schaden sei.
Rechtlich ist das Leben immer wertvoller als der Tod
Bei der Bewertung des immateriellen Schadens sei der durch die künstliche Ernährung erreichte Zustand des Weiterlebens – wenn auch möglicherweise unter erheblichem Leiden - dem Zustand gegenüberzustellen, der bei Abbruch der künstlichen Ernährung eingetreten wäre, nämlich dem Tod.
- Als höchstrangiges Rechtsgut habe das menschliche Leben immer einen höheren Wert als der Tod.
- Aus diesem Grunde verbiete es die verfassungsrechtliche Wertung der Art.1 Abs. 2, 2 Abs. 2 Satz 1 GG ein Weiterleben als Schaden anzusehen, auch wenn dieses leidensbehaftet sei.
Keine Entscheidungsbefugnis Dritter über Leben oder Tod
Der BGH stellte klar, dass der betroffene Patient selbst rechtlich autonom
- sein Leben als lebensunwert erachten
- und verlangen dürfe, dass lebenserhaltende Maßnahmen gegen seinen Willen zu unterbleiben hätten.
Wenn aber – wie hier - der Patient sich selbst nicht geäußert habe und zu einer Äußerung aufgrund seiner körperlichen und geistigen Verfassung nicht mehr in der Lage sei, verbiete es die Verfassungsordnung der dritten Personen und auch der Rechtsprechung, zu entscheiden, ob der Tod die bessere Alternative zum Leben sei oder gewesen wäre.
BGH setzt bisherige Rechtsprechung zum Wert des Lebens konsequent fort
In der Urteilsbegründung bezog sich der BGH ausdrücklich auf eine Entscheidung aus dem Jahr 1983. Auch dort ging es um die Frage, ob menschliches Leben ein Schaden sein kann. Eine Mutter hatte ihren behandelnden Arzt verklagt, der während ihrer Schwangerschaft eine Erkrankung an Röteln nicht erkannt hatte und die darauf ein schwer behindertes Kind zur Welt brachte. Auch in diesem Fall hatte der BGH Schadenersatzansprüche der Mutter abgelehnt, weil das zur Welt gekommene Kind, ob behindert oder nicht, niemals rechtlich als Schaden angesehen werden könne (BGH Urteil v. 18.1.1983, VI ZR 114/81).
Auch bei entgegenstehender Patientenverfügung keine Schadensersatzansprüche
In seiner Entscheidung wies der BGH ausdrücklich darauf hin,
- dass das Weiterleben auch dann nicht als Schaden gewertet werden kann, wenn eine Weiterbehandlung entgegen einer ausdrücklichen Patientenverfügung erfolgt.
- Eine Patientenverfügung, die eine Weiterbehandlung in bestimmten Situationen untersagt, entfalte lediglich Abwehransprüche gegen lebensverlängernde Maßnahmen, die gegebenenfalls gerichtlich durchzusetzen seien.
Eine Schadenskompensation wegen lebensverlängernder Maßnahmen komme aus verfassungsrechtlichen Gründen auch hier nicht in Betracht.
Selbst kontraindizierte Behandlungskosten bleiben an den Kassen hängen
Nach dem Spruch des BGH steht dem Kläger auch kein Anspruch auf Ersatz der durch das Weiterleben des Patienten bedingten Pflege- und Behandlungspflegeaufwendungen zu. Dies folgt nach dem Urteil des BGH daraus, dass - unterstellt der behandelnde Arzt habe Aufklärungs- und Behandlungspflichten im Zusammenhang mit lebenserhaltenden Maßnahmen verletzt, -
- die Behandlungs- und Aufklärungspflichten nicht den rechtlichen Zweck haben, wirtschaftliche Belastungen, die mit dem Weiterleben eines Patienten verbunden sind, zu verhindern.
- Schon gar nicht dienten diese Pflichten dazu, den Erben das Vermögen des Patienten möglichst ungeschmälert zu erhalten.
(BGH, Urteil v. 2.4.2019, VI ZR 1318).
Anmerkungen:
Dieses Ergebnis hat eine enorme Bedeutung auch für mögliche Regressansprüche von Krankenkassen bei teuren, medizinisch nicht indizierten, lebensverlängernden Maßnahmen über mehrere Jahre.
Das BVerfG könnte noch gefragt werden
Der ordentliche Rechtsweg ist mit dem Urteil des BGH erschöpft. Ob der Kläger von der Möglichkeit der Einlegung einer Verfassungsbeschwerde Gebrauch macht, will er nach Vorliegen der schriftlichen Urteilsgründe entscheiden. Sein Anwalt hat bereits angedeutet,
- dass das Urteil des BGH in der Realität nach seiner Auffassung in vielen Fällen zu einer Verletzung des Rechtes auf menschenwürdiges Sterben führen wird,
- das aber ebenfalls Teil des Lebensrechts sei. Das könnte ein Anknüpfungspunkt für eine Verfassungsbeschwerde sein.
- (BGH, Urteil v. 2.4.2019, VI ZR 1318)
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