Menschenrechtsanwälte stellen Strafanzeige in Den Haag wegen der Toten im Mittelmeer


Klage vor Internationalen Strafgerichtshof wg. Tod im Mittelmeer

Eine Gruppe von Menschenrechtsanwälten hat beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag Strafanzeige gegen die EU wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit erstattet. Die Abschottungspolitik fordere Tausende von Menschenleben, da Flüchtlinge in Seenot durch den systematischen Abbau der Seenotrettungskapazitäten sich selbst überlassen würden.

In einer über 240 Seiten umfassenden Anklageschrift legen die Anwälte - darunter die bekannten Menschenrechtler Omer Shatz und Juan Branco - dar, dass seit dem Jahr 2014 mehr als 12.000 Menschen auf der Flucht über das Mittelmeer ums Leben gekommen seien. An dem Tod dieser Menschen trage die Politik der EU eine erhebliche Mitverantwortung.

Vorwurf: Flüchtlinge werden in Seenot alleingelassen

Unter Verletzung der UN-Menschenrechtskonvention betreibe die EU – so der Vorwurf - eine Migrationspolitik der Abschreckung. Mit dem Ziel, Menschen von der Flucht nach Europa abzuhalten würden bewusst Migranten nicht aus Seenot gerettet und deren Leben geopfert, allein zu dem Zweck, bei anderen potentiellen Migranten einen Abschreckungseffekt zu erzielen.

Beihilfe zu Folter, Versklavung und Ermordung tausender Menschen?

In der Anklageschrift wird den EU-Ländern vorgeworfen, eine Politik der möglichst totalen Abschottung zu betreiben.

  • Diese Politik sei verantwortlich für den Tod tausender Flüchtlinge durch Ertrinken.
  • Der Rücktransport der Flüchtlinge durch die libysche Küstenwache werde bewusst finanziell unterstützt, obwohl der EU bekannt sei, dass die Menschen in Libyen in menschenunwürdigen, konzentrationsähnlichen Lagern untergebracht würden.
  • In diesen Lagern würden Menschen gefoltert, vergewaltigt und nicht selten getötet.

Seenotrettungskapazitäten werden systematisch abgebaut

In der Anzeige wird im einzelnen analysiert, wie die EU nach und nach Seenotrettungskapazitäten abbaut.

  • Nach Auslaufen des Seenotrettungsprogramms „Sophia“ werde auf weiten Flächen des Mittelmeers keine Seenotrettung mehr betrieben.
  • Die Bundeswehr habe ihre Schiffe aus den Seenotrettungsgebieten Anfang des Jahres zurückgezogen mit der Begründung, dass Italien sich weigert, gerettete Flüchtlinge aufzunehmen.
  • Private Seenotretter wie die Organisation „Sea-Watch“ würden insbesondere in Italien sogar strafrechtlich verfolgt, weil sie angeblich illegale Einwanderung unterstützen.

Abschottungspolitik unter Verstoß gegen die UN-Menschenrechtskonvention

Die EU-Politik - so der Vorwurf - sei darauf ausgerichtet, die „Rettung“ von Flüchtlingen im wesentlichen der libyschen Küstenwache zu überlassen.

  • Die Verweigerung der Seenotrettung durch die EU stufen die Anwälte als nach internationalem Völkerrecht illegale Zurückweisung“ von Personen ein,
  • die nach der UN-Konvention für Menschenrechte eindeutig den Flüchtlingsstatus hätten und daher nicht ohne weiteres zurückgewiesen werden dürften.

In diesen Kontext gehöre auch die Ausstattung der libyschen Küstenwache durch die EU mit Schiffen, die Ausbildung libyscher Militärs durch die EU sowie die Ausstattung mit Kommunikationsgeräten. Da die EU die oft tödlichen Konsequenzen für nicht wenige Flüchtlinge kenne, werten die Anwälte das koordinierte Vorgehen der EU als  „organisierten Angriff auf die Zivilbevölkerung

Deutsche Bundesregierung weist Vorwürfe zurück

Die Anzeige soll in diesen Tagen an den IStGH in Den Haag übermittelt werden. Einige Medien wurden vorab informiert. Die deutsche Bundesregierung beeilte sich, die Vorwürfe zurückzuweisen. Deutschland setzte sich in erheblichem Umfang dafür ein, die Situation der Migranten in den libyschen Sammellagern zu verbessern. Die EU-Länder seien auch nicht schuld am Tod unzähliger Flüchtlinge im Mittelmeer, die Schuld daran hätten allein die Schlepper, die in unverantwortlicher Weise Flüchtlinge in viel zu kleinen Booten zur Flucht über das Mittelmeer verleiten, unter anderem mit unhaltbaren Versprechungen über ein besseres Leben in Europa.

Diplomaten bestätigen die menschenunwürdigen Zustände

Nicht zu übersehen sind aber auch die ausdrücklichen Warnungen deutscher Diplomaten spätestens seit dem Jahr 2017. Die Diplomaten bestätigen die katastrophale Lage in den libyschen Flüchtlingslagern. Auch nach deren Berichten schrecken die libyschen Milizen vor Folter und Erschießungen nicht zurück. Dies deckt sich mit den Feststellungen von Menschenrechtsorganisationen und den Vereinten Nationen, die von hunderten Leichen auf Müllhalden mit deutlich erkennbaren Folterspuren in Libyen berichten.

IStGH verfolgt nur Einzelpersonen

Juristisch ist die Anzeige der Menschenrechtsanwälte äußerst umstritten. Der IStGH ist auf die Verfolgung von Einzelpersonen wie beispielsweise von leitenden Mitglieder von Regierungen, der Armee oder der Polizei im Fall von strafbaren Menschenrechtsverletzungen ausgerichtet. Die Strafverfolgung von Ländern oder Staaten als solchen ist rechtlich nicht vorgesehen. Die Anzeige der Menschenrechtsanwälte bezieht sich allgemein auf die „Verantwortlichen der EU und ihrer Mitgliedstaaten“, nennt dabei ausdrücklich einzelne Vertragsstaaten wie Deutschland, Frankreich und Italien, aber keine Namen von handelnden Personen.

Zuständigkeit des IStGH noch ungeklärt

Bereits vor Eingang der Strafanzeige hatte die Chefanklägerin des IStGH in einem Bericht an den Rat der EU erklärt, sie gehe Vorwürfen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Flüchtlingslagern in Libyen nach. Sie habe jedoch noch nicht eindeutig geklärt, ob die Zuständigkeit des IStGH für eine Verfolgung solcher Verbrechen überhaupt gegeben wäre. Es wird daher noch eine ganze Reihe von schwierigen Rechtsfragen von der Chefanklägerin beim IStGH zu klären sein. Ob es jemals zu einer Entscheidung des IStGH kommt, ist ungewiss, gewiss ist, dass bis dahin noch eine nicht unerhebliche Zahl von Flüchtlingen im Mittelmeer und/oder in libyschen Lagern umkommen wird.

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