Schadenminderungspflicht: Unfallopfer muss sich um Umschulung bemühen
Eine berufstätige Frau wurde im Jahr 2001 bei einem Verkehrsunfall schwer verletzt, an dem sie keine Schuld trug. Bis Ende 2005 war die Frau, die über eine abgeschlossene Lehre als Bürokauffrau verfügte und vor dem Unfall zehn Jahre (teilweise in Teilzeit) in dem Beruf gearbeitet hatte, erwerbsunfähig.
In den folgenden 13 Jahren, bis zum Jahr 2018, nahm die Frau keine Beschäftigung auf. Als Grund dafür führte sie an, dass ihre Erwerbsfähigkeit auf Grund des Unfalls so eingeschränkt gewesen sei, dass sie in der konkreten Arbeitsmarktsituation kein Erwerbseinkommen hätte erzielen können.
Arbeitsamt hielt Frau für vermittlungsunfähig
Ein Sachverständiger war allerdings zu der Einschätzung gekommen, dass die Frau ab Anfang 2006 eine sitzende Tätigkeit vollschichtig wieder werde aufnehmen können. Das Arbeitsamt wiederum hatte die Frau im Dezember 2006 aus der Vermittlung herausgenommen, da sie nach der Begutachtung durch einen Arzt nicht mehr für vermittlungsfähig erachtet wurde.
Gutachter sah die Geschädigte nur 20 Prozent erwerbsgemindert
Es folgten weitere Gutachten und Stellungnahmen in den Jahren 2009 und 2010, die zu dem Ergebnis kamen, dass bei der Frau von einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 Prozent ausgegangen werden könne, die Frau durchaus drei bis sechs Stunden einer leichten sitzenden Tätigkeit nachkommen könne.
Insgesamt waren für den Zeitraum zwischen 2005 und 2018 Rentenzahlungen, Beiträge zur Krankenversicherung der Rentner sowie Aufwendungen für Reha-Maßnahmen in Höhe von etwa 185.000 EUR angefallen. 2018 erhob die Versicherung der Frau Klage gegen die Haftpflichtversicherung der Unfallverursacherin, um eine Rückzahlung der Leistungen zu erwirken.
Das Landgericht hatte der Klage der Versicherung stattgegeben und begründete dies unter anderem damit, dass es nicht erforderlich sei, dass die Versicherung Einzelheiten zu den Erwerbsbemühungen des Unfallopfers darlege.
Unfallopfer hat gegen Schadensminderungspflicht verstoßen
Das OLG Celle kam zu einer anderen Einschätzung. Für den Zeitraum von 2006 bis 2018 bestehe aufgrund eines Verstoßes der klagenden Versicherung und der Geschädigten gegen ihre Schadensminderungspflicht gemäß § 254 Abs. 2 BGB kein Anspruch.
- Aus § 254 Abs. 2 BGB folge, dass die verletzte Person in den Grenzen des Zumutbaren ihre gegebenenfalls verbliebene Arbeitskraft zur Schadensminderung einsetzen müsse.
- Ein Anspruch könne allerdings nur dann gekürzt werden, wenn dem Geschädigten ein vorwerfbarer Obliegenheitsverstoß nachgewiesen werden könne.
Verstoß gegen Obliegenheit, sich um eine Arbeitsstelle zu bemühen
Bei der Beurteilung der Obliegenheit, sich um die Wiederaufnahme der früheren Tätigkeit oder einer anderen Arbeit zu bemühen, sei nicht die retrospektive Beurteilung durch einen Sachverständigen maßgeblich, sondern die Sicht eines verständigen Geschädigten zur Zeit der Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit (vgl. OLG Frankfurt, Urteil v. 02.11.2015, 25 U 159/12).
Einstellen der Bemühungen des Arbeitsamtes um Vermittlung entlastet die Geschädigte nicht
Die Begründung der Klägerin, das Arbeitsamt habe die Geschädigte bereits 2006 aus der Vermittlung genommen, entlaste weder die Geschädigte noch die Klägerin, der Obliegenheit nachzukommen, sich um eine Arbeitsstelle für die Geschädigte zu bemühen, die unstreitig nicht vollständig in der Ausübung ihres Beruf körperlich eingeschränkt gewesen wäre.
Nach ständiger Rechtsprechung des BGH obliege es dem Verletzten im Verhältnis zum Schädiger, seine verbleibende Arbeitskraft in den Grenzen des Zumutbaren so nutzbringend wie möglich zu verwerten.
Geschädigte müssen sich um Schulungen bzw. Umschulungen bemühen
Es reiche im Rahmen der sekundären Darlegungslast der Klägerin nicht aus, allgemein zu behaupten, es habe keine geeigneten Arbeitsplätze für die Geschädigte gegeben. Die Geschädigte habe mit ihrem beruflichen Hintergrund – abgeschlossene Lehre, zehn Jahre Berufserfahrung, Vertrautheit mit modernen Kommunikationsmitteln – nicht davon ausgehen dürfen, dass eine Rückkehr in ihren zuvor ausgeübten Beruf von vornherein keinen Erfolg gehabt hätte. Gegebenenfalls müsse sich der Geschädigte um Schulungen bzw. Umschulungen bemühen.
(OLG Celle, Urteil v. 07.04.2021, 14 U 134/20).
Hintergrund Schadensminderungspflicht und Erwerbsobliegenheit:
Nach der ständigen Rechtsprechung des BGH ist der Geschädigte grundsätzlich verpflichtet, die ihm verbleibende Arbeitskraft in zumutbarer Weise so nutzbringend wie möglich schadensmindernd einzusetzen (BGH, Urteil v. 24.02.1983; BGH, Urteil v. 26.09.2006 , VI ZR 124/05).
Die Zumutbarkeit für die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit durch den Geschädigten bestimmt sich nach dessen Persönlichkeit, sozialer Lage, bisherigem Lebenskreis, Begabung und Anlagen, Bildungsgang, Kenntnissen und Fähigkeiten, bisherigem Werdegang, gesundheitlichen Verhältnissen, Alter, seelischer und körperlicher Anpassungsfähigkeit, Umstellungsfähigkeit, Art und Schwere der Unfallfolgen, Familie (Familienstand, Zahl und Alter der Kinder), und Wohnort (BGH, Urteil v. 25.09.1973, VI ZR 97/71; BGH, Urteil v. 19.06.1984, VI ZR 301/82). Verstößt der Geschädigte gegen die vom BGH entwickelten Grundsätze zur Erwerbsobliegenheit, so ist ein möglicher (fiktiver) Verdienst nach § 287 ZPO zu schätzen und auf den Erwerbsschadensersatzanspruch des Geschädigten anzurechnen.
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