Anwalt darf auf Verlängerung der Berufungsfrist vertrauen

Stellt ein Rechtsanwalt einen Antrag auf erstmalige Verlängerung der einmonatigen Berufungsbegründungsfrist, so darf er auf die Stattgabe des Verlängerungsersuchens vertrauen, sofern er erhebliche Gründe für seinen Antrag vorgebracht hat. Anderenfalls sieht der BGH grundlegende Verfahrensrechte verletzt.

Die Berufungsfrist zu versäumen, ist keine Kleinigkeit. Der Rechtsanwalt sollte sie ernst nehmen, aber auch der Richter sollte die Berufung nicht leichtfertig versenken.


Erster Antrag auf Verlängerung der Berufungsfrist

Laut BGH darf eine Rechtsanwalt regelmäßig erwarten, dass seinem ersten Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist entsprochen wird.

  • Der Anwalt ist nicht verpflichtet, sich innerhalb des Laufs der Berufungsbegründungsfrist bei Gericht zu erkundigen,
  • ob der Verlängerungsantrag rechtzeitig eingegangen ist
  • oder ob ihm stattgegeben wurde.

Berufungsbegründung ging erst nach Fristablauf ein

In einem Zivilrechtsstreit hatte das LG einer Klage auf Schadenersatz teilweise stattgegeben. Der Beklagte hatte hiergegen über seinen Prozessbevollmächtigten fristgerecht Berufung eingelegt. Der Prozessbevollmächtigter reichte aber erst nach Ablauf der einmonatigen Berufungsbegründungsfrist die Berufungsbegründung bei Gericht ein. Das LG wies den Beklagtenanwalt darauf hin, dass seine Berufung nicht rechtzeitig innerhalb der einmonatigen Berufungsbegründungsfrist begründet worden sei.

Verlängerungsantrag rechtzeitig abgesandt

Hierauf beantragte der Berufungsführer Wiedereinsetzung in den vor vorigen Stand (-> Voraussetzungen und Frist für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand). Zur Begründung führte er aus,

  • sein Prozessbevollmächtigter habe innerhalb der Berufungsbegründungsfrist einen Schriftsatz bei Gericht eingereicht,
  • mit dem er „wegen Arbeitsüberlastung“ die Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist um einen Monat beantragt habe.
  • Dem Wiedereinsetzungsantrag waren beigefügt ein Doppel des Verlängerungsantrags
  • sowie eine anwaltliche Versicherung, wonach der Anwalt den  Fristverlängerungsantrag rechtzeitig einige Tage vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist selbst ausgedruckt, frankiert und eigenhändig in einen nahe gelegenen Briefkasten geworfen habe. 

OLG weist den Wiedereinsetzungsantrag zurück

Das OLG wies den Antrag auf Wiedereinsetzung zurück mit der Begründung, ein Verlängerungsantrag sei nicht zu den Akten gelangt.

  • Der Prozessbevollmächtigte hätte nicht auf die Bewilligung der beantragten Fristverlängerung vertrauen dürfen.
  • Spätestens am letzten Tag des ursprünglichen Fristablaufs hätte er sich über den Erfolg seines Verlängerungsantrag bei Gericht erkundigen müssen.
  • Deshalb sei die Fristversäumnis nicht unverschuldet, der Wiedereinsetzungsantrag daher zurückzuweisen.

BGH rügt Verletzung grundlegender Verfahrensrechte

Die Begründung des OLG ließ der BGH nicht gelten. Nach Auffassung des BGH verletzt die mit der Rechtsbeschwerde angefochtene Entscheidung des OLG den Beklagten in seinen Verfahrensgrundrechten

  • auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes gemäß Art. 2 Abs. 1  GG
  • sowie auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG.

Entscheidend ist die Wahrscheinlichkeit der beantragten Fristverlängerung

Die Verletzung der verfassungsmäßig gewährten Rechtsschutzgarantie folgt nach Auffassung des Senats aus § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO. Hiernach kann die Frist zur Berufungsbegründung ohne Einwilligung des Gegners auf Antrag um bis zu einem Monat verlängert werden,

  • wenn nach freier Überzeugung des Vorsitzenden der Rechtstreit durch die Verlängerung nicht verzögert wird oder
  • wenn der Berufungskläger erhebliche Gründe darlegt.
  • Ein Berufungsführer kann sich zwar nach Auffassung des BGH nicht von vornherein einer Stattgabe seines Verlängerungsersuchens sicher sein, für ein erfolgreiches Wiedereinsetzungsverfahren reicht es nach Auffassung des Senats aber aus, wenn der Berufungsführer mit großer Wahrscheinlichkeit die Bewilligung der Fristverlängerung erwarten durfte (BGH, Beschluss v. 9.5.2017, VIIIZB 69/16).

Arbeitsüberlastung ist ausreichender Grund für Fristverlängerung

Der BGH verwies auf seine ständige Rechtsprechung, wonach einem ersten Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bei Darlegung erheblicher Gründe im allgemeinen stattzugeben sei.

  • Nach ständiger Rechtsprechung gehörten zu diesen erheblichen Gründen insbesondere die Arbeitsüberlastung des Prozessbevollmächtigten (BGH, Beschluss v. 30.5.2017, VI ZB 54/16).
  • Im übrigen dürften nach ständiger Rechtsprechung an die Darlegung eines erheblichen Grundes für die Fristverlängerung keine zu hohen Anforderungen gestellt werden (BGH, Beschluss v. 16.3.2010, VIZB 46/09). 

Anwalt darf auf Beachtung der höchstrichterlichen Rechtsprechung vertrauen

Im Ergebnis durfte nach Auffassung des Senats der Prozessbevollmächtigte des Berufungsführers darauf vertrauen, dass sein mit dem Grund der Arbeitsüberlastung versehenes Verlängerungsersuchen erfolgreich sein würde,

  • denn ein Anwalt dürfe regelmäßig auf die Beachtung der höchstrichterlichen Rechtsprechung auch durch die unteren Instanzen vertrauen.
  • Aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit dürfe ein einzelnes Gericht zum Nachteil der betroffenen Parteien keine strengeren Maßstäbe als die Obergerichte anlegen.
  • In der Folge sei der Prozessbevollmächtigte nicht verpflichtet gewesen, sich innerhalb des Laufs der ursprünglichen Berufungsbegründungsfrist bei Gericht zu erkundigen, ob seinem Verlängerungsantrag stattgegeben wurde. 

Rechtsbeschwerde erfolgreich

Im Ergebnis sah der BGH damit die Rechtsbeschwerde als begründet an. Allerdings ist der Beschwerdeführer damit noch nicht am Ziel. Der BGH wies das Verfahren zur weiteren Entscheidung nämlich an die Vorinstanz zurück. Im Rahmen des Wiedereinsetzungsantrags sei noch zu klären, ob der von dem Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers vorgebrachte Geschehensablauf auch glaubhaft, d.h. überwiegend wahrscheinlich sei. Hierzu müsse das Gericht noch gesondert Tatsachenfeststellungen treffen.

(BGH, Beschluss v. 20.2.2018, VI ZB 47/17).



Hintergrund:

Nach Art 103 Abs. 1 GG ist der Grundsatz rechtlichen Gehörs verfassungsrechtlich garantiert und für jedes gerichtliche Verfahren konstitutiv und unabdingbar. Eine Missachtung des rechtlichen Gehörs verletzt den Betroffenen in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 GG. Wird das rechtliche Gehör entscheidend verletzt, so hat der Betroffene die Möglichkeit, den Fortgang des Verfahrens mit Hilfe einer Gehörsrüge zu erreichen.