Kurs auf grünes Schiffsrecycling - Europas erbitterter Kampf um das richtige Abwracken
Schweren Herzens schiebt Kapitän Hansen den Hebel nach vorne – „Volle Fahrt voraus“. Die Motoren seines Frachtschiffs Aurelia gehen auf Hochtouren. Am Horizont die Küste und dahinter die indische Stadt Alang. Ohne die Geschwindigkeit zu verringern, fährt das riesige Schiff darauf zu. Als die Aurelia auf die Küste trifft, schiebt sie sich mit einem gewaltigen Ächzen aus dem Meer auf den öligen, verschmutzten Strand. Mit einem Zittern kommt sie zur Ruhe, wartet nun auf ihr schmutziges Ende: die Zerlegung am Strand.
Beaching – ein Desaster für Mensch und Umwelt
Ein Großteil der weltweit abgewrackten Schiffe findet seinen letzten Hafen an solchen Abwrack-Stränden. Was dort passiert, ist ein Desaster für Mensch und Umwelt. Die NGO Shipbreaking Platform will das ändern. Sie ist eine Koalition von Organisationen, die sich dafür einsetzen, die durch diese Art des „Schiffsrecycling“ entstandenen Schäden wieder umzukehren. Sie prangert an, dass der globale Schiffsrecyclingmarkt bisher von Unternehmen dominiert wird, die keine internationalen Standards einhalten. Diese Betriebe können nur deshalb bessere Preise für ausgemusterte Schiffe bieten, weil sie Gesundheits-, Sicherheits- und Umweltstandards verletzen und ihre Mitarbeiter ausbeuten.
Gift in der Natur – eine weltweite Herausforderung
Die EU-Kommission stellte bereits 2017 fest, dass das Verursacherprinzip des Umweltrechts im Schiffsrecycling oft nicht angewandt wird. Das Ergebnis: Über 70 Prozent der weltweit jährlich 600 bis 700 ausgemusterten Schiffe werden ohne Einhaltung von Umwelt- und Sicherheitsvorschriften, mit all ihren toxischen Substanzen, vor allem an den Stränden Südasiens zerlegt. Per sogenanntem Beaching werden die Schiffe auf die Strände Pakistans, Indiens oder Bangladeschs gefahren, wo sie in Handarbeit auseinandergenommen werden. Giftige Flüssigkeiten und umweltschädliche Stoffe gelangen ungefiltert ins Meer – die schrecklichen Bilder von geschwärzten Stränden und öligen Brandungswellen gehen regelmäßig um die Welt. Die Folgen dieser Praxis sind verheerend: Meereslebewesen werden vergiftet, Vögel verkleben ihr Federkleid im öligen Gewässer und verenden jämmerlich. Dazu verunreinigen die Schadstoffe aus den Schiffen das Grundwasser. Kilometerweit um die Schiffsschlachthöfe herum wird das Wasser aus Brunnen, Flüssen und Bächen für Mensch und Tier ungenießbar.
Brutale Arbeitsbedingungen – die EU will damit Schluss machen
Nicht nur für die Umwelt, auch für die Arbeiter ist diese wilde Art der Schiffszerlegung sehr gefährlich. Ohne ausreichende Sicherung und oft barfuß schuften die Arbeiter in den Gerippen, um die Stahlkolosse von oben nach unten zu zerlegen. Die Gefahr, in die Tiefe zu stürzen oder von Metallteilen zerquetscht zu werden, ist alltäglich, wie aus einem Bericht der „Welt“ hervorgeht.
Die Europäische Union hat darauf reagiert. Bereits 2013 erließ sie die EU-Schiffsrecycling-Verordnung, die über die bestehenden Anforderungen der Hongkonger Konvention von 2009 hinausgeht (Siehe Infokasten). Die Verordnung verpflichtet alle Eigner von Schiffen unter EU-Flagge, ihre Schiffe nur noch in Recyclingwerften abwracken zu lassen, die von der EU zertifiziert sind. Hierzu veröffentlichte die EU eine Liste mit 48 zertifizierten Abwrackbetrieben, welche hohe Standards für das Schiffsrecycling bieten. Die meisten gelisteten Betriebe liegen in der EU, viele aber auch in europäischen Nicht-EU-Ländern, sowie ein Betrieb in den USA.
Von internationalen Beobachtern wird diese Verordnung als nützliches Instrument betrachtet, um globale Standards endlich zu verbessern. Obwohl die gelisteten Recyclinghöfe über freie Kapazitäten verfügen, wurden im Jahr 2019 immer noch rund 90 Prozent der weltweit rückgebauten Schiffsmasse an den umstrittenen Stränden in Südasien abgefertigt.
Die EU erarbeitet Pläne – die Reeder umgehen sie
Wie auf einem Symposium des Maritimen Clusters Norddeutschland diskutiert wurde, liegt das vor allem an zwei Problemen. So würden die Reeder in Südasien meist 450 bis 500 Dollar pro recycelter Tonne Stahl erhalten, in der Türkei immerhin noch über 200 – und in Europa gerade mal 100 bis 150 Dollar. Dieser markante Preisunterschied entsteht vor allem durch billigere Arbeitskräfte und die Nicht-Investitionen der südasiatischen Länder in Sicherheit und Umweltschutz.
Der andere Punkt sind die laschen Regulierungen. Zwar dürfen EU-geflaggte Schiffe nur in zertifizierten Recyclingbetrieben abgewrackt werden, in der Praxis jedoch flaggen die Eigner ihre Schiffe vor Verkauf oft einfach um, um sie dann als Nicht-EU-Schiffe an die südasiatischen Strände zu schicken. Diese Lücke muss unbedingt geschlossen werden. Die Verordnung sollte daher nicht nur die Schiffe unter EU-Flagge, sondern alle Schiffe von Eigentümern innerhalb der EU erfassen. Billigere Arbeitskräfte und lasche Regulierungen in Südasien schlagen sonst weiterhin das europäische Know-how. Die EU-Kommission prüft zusätzliche Maßnahmen, darunter finanzielle Anreize für die umweltfreundliche Entsorgung.
Deutschland sieht das Potenzial – und handelt
Auf einem Symposium des MCN wurde die Möglichkeit für eine Vorreiterrolle Deutschlands in der Schiffsrecyclingbranche diskutiert. Im Zentrum steht das gesteigerte Interesse der Stahlindustrie an wiedergewonnenen Metallen. Allein das Stahlwerk Bremen von Arcelor Mittal plant, bis zu 1,75 Millionen Tonnen Schrott pro Jahr als Rohstoff zu nutzen, um eine klimaschonende Produktion zu fördern. Die Branche muss ihren CO₂-Ausstoß in der Produktion drastisch reduzieren, ein verstärkter Einsatz von Schrott als Rohstoff könnte die Treibhausgas-Emissionen laut einer Studie um 80 bis 90 Prozent reduzieren. Die traditionell mit Koks befeuerten Hochöfen werden dazu schrittweise durch Elektroschmelzöfen ersetzt. In diesem Verfahren ist Schrott ein wichtiger Rohstoff, denn sein Kohlenstoffgehalt ist bereits gering. In Bremen hat ArcelorMittal bereits die Weichen in diese Richtung gestellt: „In den kommenden Jahren werden wir den Anteil von Schrott von derzeit 800.000 Tonnen auf 1,8 Millionen Tonnen steigern“, kündigte Jürgen Fries an, der die Strategie-Entwicklung für das Stahlwerk Bremen verantwortet.
Laut dem Leibniz-Zentrum für marine Tropenforschung sollen ab 2033 weltweit jährlich über 20 Millionen Tonnen an Stahlschrott aus dem Schiffsrecycling in den Kreislauf eingespeist werden.
Die steigende Nachfrage, eine wachsende Branche und die politische Förderung der Klimaziele könnten das Land schon bald zu einem Vorreiter im nachhaltigen Schiffsrecycling machen. Auch aus dem Koalitionsvertrag der aktuellen Regierung Deutschlands geht hervor, dass Investitionen in die Schiffsrecyclingbranche geplant sind.
Ein Beispiel für einen Pionier in der Branche ist das Start-up Leviathan, Gewinner des Nachhaltigkeitspreises MCN Cup 2021. Das Unternehmen plant, Schiffe bis 140 Meter Länge in Stralsund zu recyceln, sobald alle Genehmigungen vorliegen.
Die Hongkong-KonventionDiese Konvention soll den internationalen Schiffsrecyclingprozess reglementieren und dadurch Mensch und Umwelt schützen. Sie wurde im Mai 2009 von den Mitgliedstaaten der Internationalen Seeschifffahrts-Organisation in Hongkong beschlossen. Das Abkommen tritt aber erst in Kraft, wenn mindestens 15 Länder es ratifizieren und diese gemeinsam mindestens 40 Prozent der weltweiten Schiffshandelstonnage repräsentieren. Erst die Ratifizierung durch Liberia und Bangladesch im Juni 2023 hat dazu geführt, dass nun circa 46 Prozent aller Länder an der Welthandelstonnage beteiligt sind. Somit tritt die Konvention – nach einer 16-jährigen Wartezeit – am 26. Juni 2025 offiziell in Kraft. Auch Deutschland hat das Abkommen erst im Jahr 2019 ratifiziert, das Land ist mit 7,9 Prozent an der Welthandelstonnage beteiligt. Während das überfällige Inkrafttreten auch von Deutschland begrüßt wird, weisen weltweit über 100 Organisationen auf die immer noch sehr laschen Regelungen hin, die in dem Abkommen verankert sind. Sie werden nach Ansicht der Shipbreaking Platform die Rechte von Arbeitern und Umwelt weiterhin nur unzureichend schützen. |
Trotz zahlreicher Fragen bekundeten auf dem Bremer Symposium auch viele andere Stakeholder Interesse an solchen Projekten. Das MCN will hierbei eine federführende Rolle spielen und alle interessierten Akteure in konkreten Projektinitiativen zusammenbringen. Aktuell begleitet das MCN gemeinsam mit der Netzwerkagentur EurA AG insgesamt ein Dutzend Unternehmen und Institute, die im Rahmen eines ZIM-Netzwerkes (Zentrales Innovationsprogramm Mittelstand) an neuen, innovativen Ansätzen und technologischen Entwicklungen für ein nachhaltiges Schiffsrecycling arbeiten.
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Hinweis: Dieser Artikel erschien zuerst in Ausgabe 03/2024 von forum Nachhaltig Wirtschaften. Wir danken der Redaktion für die freundliche Genehmigung zur Zweitveröffentlichung.
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