Mehr als zwei Millionen Wohnungen auf Dächern möglich
Die hohe Nachfrage nach bezahlbarem Wohnraum ist derzeit eine der zentralen Herausforderungen in Deutschland: Die Bundesregierung wollte eigentlich pro Jahr 400.000 neue Wohnungen bauen, bisher wurde das Ziel aber weit verfehlt. Dabei wird von einem dringlichen Bedarf von mehr als 1,5 Millionen zusätzlichen Wohnungen gesprochen. Reichlich Potenzial gebe es allein durch Umbauten und Aufstockungen von vorhandenen Gebäuden. Dieses Potenzial müsste nun gehoben werden, fordert der Bundesverband der Gipsindustrie.
Aufstockung: Potenzial von bis zu 2,7 Millionen neuen Wohnungen
Geschäftsführer Holger Ortleb weist auf die zweite Deutschlandstudie von Prof. Dr.-Ing. Karsten Tichelmann von der Technischen Universität (TU) Darmstadt hin: Die bemisst das Potenzial auf 2,3 bis 2,7 Millionen neue Wohnungen auf deutschen Dächern. In der ersten Deutschlandstudie 2016 stellte Tichelmann schon fest, dass es ein Umbau- und Aufstockungspotenzial bei Bestandsgebäuden von etwa einer Million Einheiten gibt. 2019 wurde die Studie auf Nichtwohngebäude in Innenstädten in ungesättigten Wohnungsmärkten erweitert. Aus den zusätzlichen Berechnungen ergibt sich ein weiteres Potenzial von 1,3 bis 1,7 Millionen Wohnungen. Seitdem hat sich die Situation laut Ortleb nicht grundlegend geändert, im Bereich des Büromarkts wahrscheinlich sogar noch vergrößert.
Tichelmann stellte durch die Studie mit einer konservativen Annahme von Mengen, Flächen und Verdichtungsschlüsseln folgende Potenziale für bezahlbaren Wohnraum sowie die dazu gehörige soziale Infrastruktur fest:
- 1,1 Millionen bis 1,5 Millionen Wohneinheiten auf Wohngebäuden der 1950er- bis 1990er-Jahre
- 20.000 Wohneinheiten oder soziale Infrastruktur auf Parkhäusern der Innenstädte.
- 560.000 Wohneinheiten durch Aufstockung von Büro- und Verwaltungsgebäuden.
- 350.000 Wohneinheiten durch Umnutzung des Überhangs (Leerstand) von Büro- und Verwaltungsgebäuden.
- 400.000 Wohneinheiten auf den Flächen von eingeschossigem Einzelhandel, Discountern und Märkten, bei Erhalt der Verkaufsflächen.
Rhein-Main-Gebiet: 250.000 Wohnungen durch Aufstockung
Allein im Rhein-Main-Gebiet könnten durch die Aufstockung von Gebäuden 250.000 neue Wohnungen entstehen. Neues Bauland zu erschließen, sei nur begrenzt möglich und nicht mit den deutschen Klimaschutzzielen vereinbar, erklärte der Vorsitzende des Eigentümerverbands Haus & Grund Hessen, Christian Streim Anfang des Jahres in Frankfurt am Main. So könnten neue Wohnungen ohne jeglichen Flächenverbrauch und teure Erschließungsarbeiten entstehen.
Der Verbandschef berief sich bei den Schätzungen ebenfalls auf wissenschaftliche Daten von Professor Tichelmann. Demnach werde das beschriebene Potenzial größer, während die Diskrepanz zwischen vorhandenem Wohnraumangebot und der stetig wachsenden Nachfrage ebenfalls steige. Es sei an der Zeit, das brachliegende Potenzial in Hessen für neuen Wohnraum ohne jeglichen Flächenverbrauch, Versiegelung und Erschließung zu nutzen.
Aufstockung von Bestandshäusern: Günstiger als Neubau
Vor allem für private Bauherren stelle die Aufstockung eine attraktive Alternative zum Neubau eines Hauses dar, ergänzte Streim: "Sie erfordert weniger Baumaterial, das derzeit knapp und teuer ist, und senkt zudem den Energiebedarf des darunter liegenden Gebäudes." Gefördert werden könnte das Potenzial zum Beispiel in Hessen durch folgende Maßnahmen, die Blaupause für Deutschland sein könnten:
- Baugenehmigungsfiktion: Nach vollständigem Vorliegen der Antragsunterlagen hat die Behörde zwei Monate Zeit, um über den Antrag zu entscheiden. Nach dieser Zeit gilt der Antrag auch ohne Entscheidung als genehmigt
- Zentrale Anlaufstelle: Eine Einrichtung bietet in technisch-rechtlichen Fragen zum Bauantrag Unterstützung für alle, die aufstocken wollen.
- Dachgeschossausbauten können ohne Baugenehmigung erfolgen.
- Entfall der Stellplatzablöse für Aufstockungen und Dachgeschossausbau.
- Fördertopf für Aufstockungen und Dachgeschossausbau in Kommunen "mit angespannten Wohnungsmärkten".
- Dauerhafter Wegfall mietpreisregulierender- und kündigungsbeschränkender Vorschriften bei neuem Wohnraum, der durch Aufstockung und Dachgeschossausbau entstanden ist.
Berlin: Bis zu 8.000 Wohnungen auf Dächern möglich
Auch die Wohnungsnot in Berlin könnte durch Aufstockung gelindert werden, wie eine Analyse von Syte, Probis, Price Hubble und Liwood zeigt. Das Potenzial beträgt demnach zwischen 430.000 und 510.000 Quadratmeter Geschossfläche – das entspricht 7.000 bis 8.000 Wohnungen mit einer Wohnfläche von 50 Quadratmetern. Die größten Potenziale bieten der Studie zufolge die Bezirke Neukölln (bis zu 1.167 Wohnungen), Tempelhof-Schöneberg (bis zu 906 Wohnungen) und Pankow (bis zu 834 Wohnungen).
"Die Aufstockung und Sanierung von bestehenden Gebäuden bietet die Möglichkeit, ohne weitere Bodenversiegelung zusätzlichen innerstädtischen Wohnraum zu schaffen", sagte Matthias Zühlke, Gründer und CEO von Syte. Identifiziert wurden hier Bestandsgebäude mit Flachdach und gering geneigtem Dach, die ein oder mehr Geschosse weniger als ihre Nachbarbebauung aufweisen. Zusätzlich mussten die Gebäude auf Grundstücken mit Wohn- oder gemischter Nutzung liegen und durften nicht mehr als sieben Geschosse haben – Grund ist die Berliner Hochhausrichtlinie.
Mietpotenzial nach Aufstockung: Rentabel für Bestandshalter
Daran, dass Aufstockung gegenüber Neubau die nachhaltigere Alternative ist, erinnerte auch Stefan Stenzel, Leiter der Projektentwicklung bei Liwood: "Während zur Herstellung von Beton große Mengen an Energie benötigt und entsprechend viel CO2 ausgestoßen wird, speichert Holz Kohlenstoff." Aus energetischer Perspektive verbessere das Aufsetzen eines neuen Dachgeschosses zusätzlich die Effizienz deutlich, insbesondere bei unsanierten Bestandsgebäuden.
Trotz der gestiegenen Baukosten zeige das Mietpotenzial nach Aufstockung, dass sich für Bestandshalter der Ausbau weiterhin rentiere, sagte Christian Crain, Geschäftsführer Deutschland bei Price Hubble. Er schätzt die erzielbaren Kaltmieten zwischen 14,50 Euro pro Quadratmeter in zentrumsfernen Lagen bis hin zu 28 Euro pro Quadratmeter in der Innenstadt. Bei Förderung durch die Stadt könne so auch preisgünstiger Mietwohnungsbau geschaffen werden.
Nachverdichtung sei auch aus städtebaulicher Perspektive die kostengünstigere Variante, so Moritz Koppe, CEO von Probis. Baukostensenkend wirkten dabei unter anderem die kurze Planungs- und Bauzeit. Da in der Regel nach § 34 BauGB gebaut werde, entfalle ein langwieriger Planungsprozess.
Baurecht schmälert Potenzial von Aufstockungen
Dass die Rahmenbedingungen auf kommunaler Ebene sowie auf Landes- und Bundesebene baurechtlich attraktiver werden müssten, um das große Potenzial von Gebäudeaufstockungen zu heben, fordert die Wohnungswirtschaft seit Jahren. Bauherren dürften nicht entmutigt, sondern müssten ermuntert werden, Wohnraum durch Aufstockungen und Dachausbauten zu schaffen, hieß es seitens des Spitzenverbandes GdW bei einschlägigen Anhörungen im Bundestag.
Auch die Deutschlandstudie von TU Darmstadt und Pestel Institut kommt zu der Erkenntnis, dass eine Reihe von bauordnungs- und bauplanungsrechtlichen Vorgaben neu zu definieren sind, um die aufgezeigten Vorteile von Aufstockungen nutzen zu können.
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