Strom, Wärme, Kälte, Wasserstoff: So geht Dekarbonisierung
Nicht nur wird Gas immer teurer, Verbraucher in Deutschland müssen sich nach Berechnungen des Vergleichsportals Verivox auch auf zusätzliche Belastungen beim Strompreis einstellen. Die Netznutzungsentgelte steigen 2023 bundesweit um durchschnittlich 20,4 Prozent – so stark wie nie, wie Verivox mitteilte. Der Anteil der Netzentgelte am Strompreis für Haushaltskunden liegt 2022 im Schnitt nach Branchenangaben bei rund 20 Prozent. Während die Bundesregierung einen Strom-und Gaspreisdeckel diskutiert, suchen Immobilienunternehmen nach eigenen praktikabeln Lösungen für die Energiewende im Gebäudebereich.
Das Softwarehaus Ampeers Energy und der Projektentwickler Greenrock als Projektentwickler haben im Südosten von Oberbayern ein Gewerbegebiet geplant, das ökologisch höchsten Standards entspricht, wie die Unternehmen berichten. Mit Simulationsanalysen wurde die optimale Wärmeversorgung ermittelt als wichtigster wirtschaftlicher Hebel für den Betriebhaben die Experten das Modell "Mieterstrom" ausgemacht. Auch Wasserstoff spielt eine Rolle.
Klimaneutrales Gewerbequartier der Zukunft
Alle Gebäude in dem Gewerbegebiet entsprechen der Effizienzhaus-Stufe 40 EE (Erneuerbare Energien); die Dachflächen werden mit Photovoltaik ausgestattet, zum Einsatz kommen Strom, Wärme, Kälte, Wasserstoff – smart und nachhaltig vernetzt. Martin Gehbald, Experte für Energiewirtschaft und Erneuerbare Energien bei Ampeers Energy, hat das Projekt begleitet und bezeichnet es als "energiewirtschaftlich sehr spannend". Green H2, ein auf Wasserstoff spezialisiertes Unternehmen von Greenrock, hatte als Simulationsexperte die Aufgabe, die optimale Energieversorgung abzuleiten.
"Für eine erfolgreiche Dekarbonisierung ist es nötig, die Wärmeversorgung zu elektrifizieren – bestenfalls mit Strom aus erneuerbaren Energien, zum Beispiel Photovoltaik" erklärt Greenrock-Inhaber Dr. Franz Hauk.
Problem "Kundenanlage": Eine Frage der Regulatorik
Das geplante Gewerbequartier ist weitläufig. Die Flurstücke liegen den Experten zufolge zwischen 4.300 und 40.000 Quadratmetern – von Bürogebäude bis Logistikhalle. Ursprünglich sollte das Quartier über einen Netzanschlusspunkt versorgt werden, also wie eine einzige Kundenanlage behandelt werden. "Wegen des Baukostenzuschusses und des Leistungspreises bei den Netzentgelten ist es sinnvoll und wirtschaftlich bedeutsam, möglichst viele Verbraucher hinter einem Netzanschluss zusammenzufassen", so Martin Gehbald.
Der Bundesgerichtshof gibt allerdings die maximale Größe von Kundenanlagen vor. In der Regel ist sie nicht möglich, wenn Hunderte Letztverbraucher angeschlossen sind, die Anlage eine Fläche von deutlich mehr als 10.000 Quadratmetern versorgt und die jährliche Menge an durchgeleiteter Energie voraussichtlich 1.000 Megawattstunden übersteigt. Im Modell-Gewerbequartier it das der Fall – damit wird eine rechtliche Prüfung erforderlich. Doch es gibt Möglichkeiten. Ampeer Energy und Green H2 haben zwei Szenarien durchgespielt.
Photovoltaikanlagen, Wärmepumpen und Elektrolyseure des Gewerbequartiers werden wie eine "Kundenanlage zur betrieblichen Eigenversorgung" behandelt und verfügen über einen separaten Netzanschlusspunkt. Der Strombedarf der Mieter würde über gesonderte Netzanschlüsse für die einzelnen Gebäude sichergestellt. Alternativ kann das Areal aufgeteilt werden: Jeder Bauabschnitt bildet dann eine Kundenlage mit eigenen Netzanschlusspunkt.
Wärmeversorgung: Dezentral mit bester Rendite
Für die Wärmeversorgung wurden mehrere Konzepte mit strombasierten Wärmeerzeugern entwickelt. Green H2 hat sich für ein Szenario entschieden, das auf ein dezentrales Konzept setzt: Jedes Gebäude hat eine eigene Wärmepumpe und ist nicht mit den anderen Gebäuden verbunden. Es hat die beste Rendite und die kürzeste Amortisationszeit. "In einem Neubaugewerbequartier, das nach höchstem Energiestandard gebaut wird, hat man einen geringeren Wärmebedarf und ein niedriges Temperaturniveau. Daher sind Luftwärmepumpen die ideale Ergänzung", sagt Hauk. Das dezentrale Szenario habe zudem den Vorteil, dass sich die einzelnen Liegenschaften besser zeitlich versetzt vermarkten lassen.
Das Team von Ampeers Energy konnte mit Simulationen zeigen, dass das Gewerbequartier Strom im Überfluss haben wird – zumindest in den Sommermonaten. Damit unterscheidet es sich den Experten zufolge grundsätzlich vom Wohnquartier: Wohngebäude weisen oft weniger Dachfläche und mehr Verbrauch auf. Die für die Gewerbeimmobilien geplanten Solardachanlagen erzeugen demnach pro Jahr mehr als sieben Gigawattstunden Strom. Bei einer Mieterstromdurchdringung von 100 Prozent lässt sich der Eigenverbrauch mehr als versechsfachen, die Rendite verdoppelt sich. "Der Verkauf von Mieterstrom hat also das Potenzial, ein bedeutender wirtschaftlicher Hebel zu werden. Die Mieter wiederum profitieren vom günstigen Preis des lokal erzeugten grünen Stroms – insbesondere, wenn die Strompreise in Zukunft weiter steigen", erklärt Gehbald. Elektromobilität sei für die Wirtschaftlichkeit insgesamt von untergeordneter Bedeutung.
Nutzung von Wasserstoff im Gewerbequartier
Wasserstoff kann den Experten zufolge als Sektorkoppler eine Rolle spielen – mehr als die Hälfte des lokal erzeugten Solarstroms steht nach deren Berechnungen zur freien Verfügung. Mit 40.000 Quadratmetern und einer entsprechend großen Photovoltaikanlage sei eine große Logistikhalle der geeignete Ort, um Wasserstoff zu produzieren. Ampeers Energy kam zum Ergebnis, dass der Eigenverbrauch von 38 auf 47 Prozent steigt, wenn ein Elektrolyseur mit angeschlossen wird. Die Herausforderung: Um auf das vom Elektrolyseur geforderte Minimum von 4.000 Volllaststunden zu kommen, wäre zusätzlich ein saisonaler Speicher nötig, da die Stromerzeugung mit Photovoltaik sehr volatil ist.
Für die Nutzung von Wasserstoff im Gewerbequartier gibt es mehrere Möglichkeiten: Zum einen eine stationäre Brennstoffzelle zur Rückverstromung im Winter und Nutzung der Abwärme, zum anderen die direkte Nutzung zur Wärmegewinnung über Wasserstoff-Dunkelstrahler. Auch eine Wasserstofftankstelle für den Schwerlastverkehr wäre für Green H2 denkbar, ist aber ebenso von der Saisonalität der Produktion abhängig. "Aktuell rechnet sich die Produktion von Wasserstoff noch nicht", folgert Ampeer-Energy-Experte Gehbald. Im Gesamtkonzept sei Wasserstoff daher eher als Ergänzung zu sehen, um Stromüberschüsse sinnvoll zu nutzen.
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