Tübingen: OB Palmer versucht es mit Tiny Houses statt Enteignung
Boris Palmer ist findig, wenn es um unkonventionelle Ideen geht. Um die anhaltende Wohnungsnot in der baden-württembergischen Studentenhochburg zu lindern, will Tübingens grüner Oberbürgermeister im September rund 160 Grundstückseigentümer anschreiben: Sie sollen ihren Grund und Boden für mindestens 15 Jahre an Besitzer von sogenannten Tiny Houses (Minihäuser) auf ihren Grundstücken verpachten.
Im Blick hat die Stadt Eigentümer, die im vergangenen Jahr ablehnend oder gar nicht auf ein erstes Schreiben geantwortet hatten: Im April 2019 hatte Palmer 240 Eigentümer brachliegender Grundstücksflächen aufgefordert, bis spätestens Frühjahr 2021 ein Baugesuch einzureichen oder alternativ das Bauland zum Verkehrswert an die Stadt zu verkaufen. Nur etwa ein Drittel der Eigentümer willigte ein. Ein weiteres Drittel lehnte eine Bebauung ab. Der Rest bat um mehr Bedenkzeit oder antwortete erst gar nicht.
Das Konzept "Tiny House": Baulücken nutzen
Der Plan, das Konzept "Tiny House" in Tübingen einzuführen, entstand nach einem Gespräch Palmers mit dem vor vier Monaten gegründeten Verein "Mut zur Lücke", der auf der Suche nach Grundstücken war. Der Verein soll nun als Vermittler von Tiny-House-Interessenten und Eigentümer von Bauland tätig werden, weil die Stadtverwaltung Daten von Grundstückbesitzern nicht an Privatpersonen weitergeben darf. "Vielleicht gelingt es, Baulücken mit dem Konzept der Tiny Houses temporär oder sogar langfristig zu nutzen", sagte der Oberbürgermeister.
Ein klassisches Tiny House hat eine Wohnfläche von 20 bis 40 Quadratmetern. Denkbar wäre auch der Aufbau von Modulhäusern: Sie gibt es mit einer Größe von 30 bis 80 Quadratmetern auf dem Markt. Die Minihäuser stehen auf Rädern oder sind an einem Fundament festgeschraubt. Strom, Wasser und Abwasser müssen wie bei einem "normalen" Haus erschlossen werden.
Hintergrund: Kann OB Palmer Tübingens Eigentümer zum Bauen zwingen?
Die ersten Briefe von OB Palmer flatterten ausgewählten Eigentümern von unbebauten Grundstücken im vorigen Jahr kurz nach Ostern ins Haus. Unter Androhung eines formellen Anhörungsverfahrens wollte die Stadtverwaltung die Grundstückseigentümer zum Antworten zwingen. Wer innerhalb von zwei Jahren nicht zustimme, bauen oder verkaufen zu wollen, werde mit Bußgeldern von bis zu 50.000 Euro belegt, hieß es damals. Palmer stützte sich mit seiner Forderung auf den Paragrafen 176 Baugesetzbuch (BauGB), der ein Baugebot formuliert.
Dass in Tübingen etwa passieren muss, ist nicht von der Hand zu weisen: In der Universitätsstadt sind derzeit rund 88.500 Menschen mit Hauptwohnsitz und zirka 1.900 (Stand: 4.8.2020) mit einem Nebenwohnsitz gemeldet. Laut dem jüngsten Wohnraumbericht von 2018 wuchs die Einwohnerzahl stetig um etwa 1.000 Menschen pro Jahr. Vor allem die Singlehaushalte werden demnach zunehmen. Laut Palmer sollen bis 2030 in Tübingen rund 5.000 neue Wohnungen entstehen.
Immobilienbranche: Nicht Populismus, eine Baulandoffensive ist gefragt
Die Debatte um Enteignungen lasse leider sehr viel Platz für Populismus und täusche über das Grundproblem der angespannten Situation hinweg: den Wohnraummangel, sagte Dr. Andreas Mattner, Präsident des Spitzenverbands Zentraler Immobilien Ausschuss (ZIA) im April 2019.
"Die Lösungen für schnelleres Bauen und Planen liegen auf dem Tisch – sie müssen nur umgesetzt werden. Sämtliche Energie sollte in die Ausweisung von Grundstücken und Flächen zur Entwicklung von neuem und bezahlbarem Wohnraum gelegt werden", erklärte der ZIA-Chef nach Palmers Vorstoß im Vorjahr.
Wer in Tübingen sein Grundstück für ein Tiny House und ein Modulhaus verpachtet, soll den angedrohten Zwangsmaßnahmen der Stadt entgehen können – also kein kein Bußgeld, kein Baugebot und keine Zwangsenteignung. Der Verein "Mut zur Lücke" wirbt außerdem damit, dass auf diese Weise keine neuen Flächen "auf der grünen Wiese" ausgewiesen werden müssten.
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