Hamburg Grasbrook: Hier wird die Zukunft gebaut
Noch versprüht das Gelände den Charme einer Industriebrache. Dort, wo einst das Hamburger Überseezentrum stand, liegt nun meterhoch Sand. Bei der Fertigstellung 1967 war es der weltweit größte Sammel- und Verteilerschuppen für Stückgut, der jedoch schon rund 15 Jahre später aufgrund des baldigen Containerbooms als überholt galt und nach langem Leerstand samt seiner ingenieurtechnisch bedeutsamen Hallenkonstruktion 2021 abgerissen wurde.
Lkw bahnen sich nun den Weg über staubige Straßen, vorbei an verlassenen Lagerhallen und überwucherten Hafengleisen. Ein Blick auf die andere, nördliche Elbseite – die Elbphilharmonie scheint zum Greifen nah, in der Ferne glitzern die anderen Hamburger Wahrzeichen Michel und Fernsehturm – offenbart eine besondere Vision, die den Abriss erforderlich machte. Diesen Blick sollen ab den 2030er Jahren Bewohner, Berufstätige und Besucher genießen können.
Grasbrook: Neues Quartier auf knapp 50 Hektar
Willkommen auf dem Grasbrook – einem der spannendsten Stadtentwicklungsprojekte der an spannenden Stadtentwicklungsprojekten nicht gerade armen Hansestadt. Es geht hier nicht um die vielzitierte Stadtreparatur oder darum, Sünden der Vergangenheit so gut es geht zu beseitigen – wie etwa beim Hamburger Autobahn-Deckel, der dafür sorgen soll, dass durch die A7 getrennte Viertel wieder zusammenwachsen. Es geht auch nicht um Verkehrsberuhigung oder Entwicklung von Magistralen. Direkt gegenüber der Hafencity geht es auf dem Grasbrook – nach den Vorstellungen der Stadt und des städtischen Entwicklungsträgers – um das große Ganze:
Ein neues Quartier auf knapp 50 Hektar Landfläche – mitten in Hamburg, grün, nachhaltig und sozial, mit Wohnraum für 6.000 Menschen und 16.000 Arbeitsplätzen. "Der Grasbrook bietet die einmalige Chance, ein Stück Zukunft zu bauen und dabei den größten Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen – vom Klima- und Ressourcenschutz über den sozialen Zusammenhalt bis hin zu neuen Arbeitswelten", sagt Dr. Andreas Kleinau, Vorsitzender der Geschäftsführung der Hafencity Hamburg GmbH, die das Projekt verantwortet.
Das Areal, im Mittelalter eine feuchte Viehweide, stand bereits mehrfach für kühne Visionen: Von der "Living Bridge", einer 700 Meter langen Wohnbrücke mit 1.000 Wohnungen, die der Architekt Hadi Teherani als "Sprung über die Elbe" zwischen Grasbrook und Hafencity spannen wollte, über den gescheiterten Plan eines Uni-Neubaus bis hin zum Traum des Senats, 2024 die Olympischen Sommerspiele unter anderem auf dem Grasbrook auszurichten. Das Vorhaben scheiterte bekanntermaßen 2015 in einer Volksbefragung.
Ein besonderer und herausfordernder Wohnstandort
Doch nun wird eine Vision Realität, Abrissbagger schaffen Fakten. Das größte Hindernis hatten die Macher bereits 2017 aus dem Weg geräumt. Mit einem Letter of Intent verständigten sich Hafenwirtschaft und Stadt auf die neue Nutzung des Quartiers.
Die Luftbilder des Projekts zeigen die großen Herausforderungen. Der Grasbrook liegt nicht nur direkt an der Norderelbe, sondern auch unmittelbar an der zentralen Verkehrsader der Hansestadt mit den Elbbrücken, über die Fern- und Güterzüge, S- und Regionalbahnen sowie Lastwagen und Autos rollen. Rund um die Uhr, sieben Tage die Woche. Zudem grenzen südlich aktive Hafen- und gewerblich genutzte Gebiete an – mit all den Nebenerscheinungen, die eine 24/7-Hafenwirtschaft mit sich bringt: Lärm, Verkehr, Emissionen. Taugt dieses Quartier wirklich zum Wohnen und Arbeiten?
Die Antwort auf diese Frage umfasst 324 Seiten und liegt auf dem Konferenztisch, an dem Hafencity-Geschäftsführer Dr. Kleinau und Bianca Penzlien, Gebietskoordinatorin für den Grasbrook, für ein Gespräch Platz genommen haben. Das Cover des Buchs "Der Stadtteil Grasbrook, Integrierte Funktions- und Freiraumplanung" zeigt die Vision. Mit Promenaden an der Uferkante, einem großen Park mit Sportplatz und vielen Bäumen und eben zahlreichen mehrgeschossigen Wohnhäusern.
"Alle Wohnlagen zeichnen sich durch eine hohe Qualität aus", sagt Bianca Penzlien. Auf dem Grasbrook entstehen im Moldauhafenquartier zwei Wohntypologien: Die "Wohninseln" und die "Nordkante". Der siegreiche Entwurf der Büros Herzog & de Meuron aus Basel sowie Vogt Landschaftsarchitekten aus Zürich verortet die "Wohninseln" zwischen dem Grasbrook-Boulevard und dem Park, die in etwa dort verlaufen, wo sich vormals das Überseezentrum mit seiner großen Umschlaghalle befand: Ensembles aus sieben- bis zwölfgeschossigen Wohnhäusern, die jeweils rund um einen grünen Hof gruppiert sind.
Im Unterschied zur klassischen Blockrandbebauung sind alle Wohninseln halb offen konzipiert, und die Gebäude stehen frei. Die "Wohninseln" sollen 1.800 Wohnungen beherbergen. Ein Ensemble bietet sogar einen Kinderspielplatz auf dem Dach.
Im zweiten Bereich, der "Nordkante" (Norderelbe) am nördlichen Elbufer, sollen 780 Wohnungen entstehen. Die Planer sehen hier mit den hellen Gebäuden eine Referenz an die "weiße Stadt" der verputzten Gründerzeithäuser Hamburgs. Hier wechseln sich Riegelbauten mit Hochpunkten ab. Die Hochpunkte ragen mit bis zu 15 Geschossen über die sieben- bis neungeschossigen Riegelbauten. Sechs- bis achtgeschossige Gewerbegebäude mit Büros und kleinteiligen Gewerbeflächen an der Ostkante sollen die Wohnensembles im "Moldauhafenquartier" vor dem Lärm der Bahn- und Straßentrassen abschirmen. "Hier wird daher auch zuerst gebaut", erklärt Penzlien.
Das "Hafentorquartier" (Saalenhafen) im Süden des Grasbrooks bleibt ganz dem Gewerbe vorbehalten. "Es wird das Bindeglied zwischen Stadt und Hafen mit vielfältigen Gebäudetypologien für Forschung und Entwicklung, urbane Produktion und Dienstleistungen", sagt Dr. Kleinau. Integriert werden die drei denkmalgeschützten Lagerhäuser D, F und G aus der Zeit der Jahrhundertwende beziehungsweise der 1950er Jahre.
Im Fokus steht besonders das 1903 erbaute Lagerhaus G am Dessauer Ufer, von 1944 bis 1945 Außenstelle des Konzentrationslagers Neuengamme. KZ-Häftlinge und Kriegsgefangene mussten von hieraus Zwangsarbeit verrichten. Hunderte starben an Misshandlung, Krankheit, Hunger undÜberarbeitung – oder wurden hingerichtet. "Mit der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte, der Behörde für Kultur und Medien, dem Denkmalschutzamt sowie der Lagerhaus G Heritage Foundation sind wir in laufenden Abstimmungen zum Konzept für einen Gedenkort und das Gesamtgebäude", erläutert Penzlien.
Neue Mobilität und Freizeitwert
Besonders bei der Mobilität soll der neue Stadtteil Maßstäbe setzen. Konzipiert wird ein autoarmes Zehn-Minuten-Quartier. Vom zentralen Stadtplatz soll fast jeder Ort des Grasbrooks in fünf bis zehn Minuten zu Fuß oder mit dem Rad erreicht werden. Herz des innovativen Mobilitätskonzepts wird die Verlängerung der U-Bahn-Linie 4 von der jetzigen Endhaltestelle Elbbrücken auf den Grasbrook. Die U-Bahn-Station wird zentral im neuen Stadtteil errichtet und auch optisch ein Hingucker: Sie soll auf Stelzen im Wasser des Moldauhafenbeckens schweben, welches selbst eine Besonderheit darstellt, waren 1929 doch infolge des Versailler Vertrages 30.000 m2 Hafenbecken für 99 Jahre an Tschechien verpachtet worden.
Die Messlatte der Planer bei der Nachhaltigkeit liegt hoch: "Der Grasbrook soll zu einem Modellstadtteil für die Reduktion von Ressourcenverbrauch und CO2-Ausstoß werden." Innnovationen sind daher notwendig. Die Gebäude sollen dank hoher Energiestandards beispielsweise zu "Prosumern" werden, die Energie nicht nur konsumieren, sondern auch produzieren. Ein möglichst großer Teil der Energie soll vor Ort erzeugt werden – etwa durch Umweltwärme und Photovoltaik auf den Hausdächern.
Hohen Freizeitwert versprechen die neuen Promenaden. Die hohen Mauern, die bislang den Blick aufs Wasser versperren, werden abgerissen. Die Planer setzen auf "weiche" Ufer mit ufernahen Wegen: "So können die Menschen die wechselnden Wasserstände der Elbe und die Wattflächen erleben", sagt Kleinau. Ganz im Nordwesten soll mit dem Deutschen Hafenmuseum ein bedeutendstes Museumsprojekt entstehen. An die dortige Kaimauer wird dann auch die historische Viermastbark "Peking" umziehen.
In der zweiten Jahreshälfte 2023 will die Hafencity Hamburg GmbH mit der Vermarktung der Grundstücke starten, beginnend mit dem Gewerbegebäude. Die Vorgaben des Senats sind streng: Mindestens 35 Prozent der geplanten 3.000 Wohnungen sollen als öffentlich geförderte Mietwohnungen entstehen und Wohnraum für vordringlich Wohnungssuchende zur Verfügung stellen. Im Fokus stehen zudem genossenschaftlich organisierte Bauherren sowie Baugemeinschaften.
Städtischer Paradigmenwechsel bei der Grundstücksvergabe
Es passt zur wechselvollen Geschichte des Grasbrooks, dass die Rahmenbedingungen besonders herausfordernd sind. Die Baukosten sind explodiert, dazu die dramatisch gestiegenen Zinsen. "Wir gehen davon aus, dass rund 33 Prozent der von unseren Mitgliedern geplanten Wohnungen komplett gestrichen beziehungsweise ihr Bau auf spätere Zeit verschoben wird", sagte Andreas Breitner, Direktor des Verbands norddeutscher Wohnungsunternehmen (VNW) Anfang des Jahres.
Zudem gilt das einst gute Verhältnis zwischen Stadt und Wohnungswirtschaft aktuell als belastet, private Investoren wie auch die Hamburger Wohnungsbaugenossenschaften sind erzürnt über die Einigung mit den Initiativen "Keine Profite mit Boden & Miete", die die Vergabe von städtischen Grundstücken fast nur noch im Erbbaurecht erlaubt und die Stadt zum Bau von zusätzlich jährlich rund 1.000 Sozialwohnungen mit einer 100-jährigen Mietpreisbindung verpflichtet. Der VNW spricht auch angesichts der im Erbbaurecht deutlich schwierigeren Verhandlungen mit Banken von einer "dramatischen Fehlentscheidung".
Kleinau ist dennoch optimistisch: "Es gibt großes Interesse aus der Wohnungswirtschaft", betont er. Man sei mit Genossenschaften, sozialen Trägern, Baugemeinschaften und privaten Bauherren im Gespräch. "Zudem haben wir die Saga Unternehmensgruppe als städtischen Konzern früh in die Planung miteinbezogen. Wir achten bei der Planung der städtebaulichen Gebäudestrukturen auf die Tauglichkeit für den sozial geförderten Wohnraum." In Gesprächen mit Banken habe man Vorbehalte ausräumen können. Auch Bürgermeister Dr. Peter Tschentscher hat bereits öffentlich betont: "Wir werden die Erbbauverträge so gestalten, dass sie immobilienwirtschaftlich kalkulierbar sind."
Auswirkungen auf benachbarte Quartiere
Mit Spannung verfolgt man auch in der benachbarten "Veddel" die Stadtentwicklungsplanungen für den Grasbrook. Der Stadtteil – bekannt durch seine, ab 1926 nach Plänen des Oberbaudirektors Fritz Schumacher errichteten Rotklinkerbauten – weist eine besonders hohe Arbeitslosenquote auf. Hier fühlt man sich seit Jahren in Sachen Infrastruktur abgehängt. Es gibt nicht mal einen Drogeriemarkt, nur einen Discounter. Kann die Veddel vom Grasbrook profitieren? Oder bestehen – ähnlich wie in den Stadtvierteln Hamburg-Wilhelmsburgs im Umfeld der IBA 2013 – Ängste vor Gentrifizierung?
Kerstin Stutte vom Verein "Veddel aktiv" lobt das Mühen um Transparenz bei den Planungen. Die Hafencity Hamburg GmbH habe die Veddlerinnen und Veddler mit Rundgängen und Veranstaltungen gut über den Prozess informiert. Doch sie bleibt skeptisch: "Die Leute hier fürchten, dass aus den großen Versprechen wieder nichts wird."
Der Weg über die geplante Veddeler Brücke sei zu umständlich für ein rasches Stadtteil-Hopping. In der Tat muss das für Fußgänger und Radfahrer konzipierte Bauwerk bis zu 110 Meter breite Verkehrsachsen überwinden, zudem einen Höhenunterschied von bis zu zwölf Meter ausgleichen. Stutte sagt: "Wir brauchen kritische Infrastruktur direkt auf der Veddel." Penzlien verspricht ein ganzheitliches Konzept: "Wir haben die Veddel bei allen Planungen im Blick. Der Grasbrook ohne die Veddel ist nicht zu denken. Das Ziel ist: Diese Nachbarschaften sollen zusammenwachsen."
Weitere Informationen zum Grasbrook
Dieser Beitrag erschien im Fachmagazin "DW Die Wohnungswirtschaft", Ausgabe 03/2023.
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