Einkommensunterschiede verschärfen sich weiter
Wieder einmal kämpfen die Beschäftigten im Gesundheitswesen an vorderster Front gegen die Corona-Pandemie. Aus gutem Grund werden deshalb vermutlich die meisten die Sonderzahlungen im aktuellen Tarifabschluss des Öffentlichen Dienstes für den Gesundheitssektor gutheißen. Für Pflegerinnen und Pfleger sieht der Tarifvertrag eine Gehaltssteigerung von 8,7 Prozent bis Ende 2022 und in der Spitze für Intensivkräfte von zehn Prozent vor.
Doch wie geht es für diese und viele weitere Beschäftigte nach 2022 weiter, wenn die Pandemie hoffentlich weitgehend überstanden sein wird? Um das zu beantworten, hat Prognos im Auftrag der Bertelsmann Stiftung die Lohneinkommensentwicklung für verschiedene Wirtschaftszweige bis ins Jahr 2025 modelliert. In unserer Studie zeigt sich, dass Beschäftigte im Gesundheitswesen nach wie vor eher unterdurchschnittlich verdienen werden, trotz weiterhin steigenden Nachfrage nach Pflegekräften. Insgesamt drohen den unteren Einkommensgruppen sogar reale Einkommensverluste.
Studie der Bertelsmann Stiftung: Beschäftigten im #Gesundheitswesen drohen trotz steigender Nachfrage nach #Pflegekräften reale #Einkommensverluste. @BertelsmannSt
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Woran liegt das? Um dies zu beantworten, müssen wir den Blick auf einen zentralen Stellhebel der Lohnentwicklung lenken, der regelmäßig ein Richtmaß für Forderungen in Tarifverhandlungen bildet und unserer Modellrechnung zugrunde liegt: Die Entwicklung der Arbeitsproduktivität. In Tarifverhandlungen geht es häufig darum, welches Stück vom erwirtschafteten Kuchen an die Erwerbstätigen verteilt wird. Das hängt unter anderem von der Verhandlungsmacht der Arbeitnehmerschaft ab. Je spezialisierter die Anforderungen und je knapper das Arbeitsangebot, desto günstiger die Position der Erwerbstätigen. Auch das bilden wir in unserer Modellrechnung ab.
Schwaches gesamtwirtschaftliches Produktivitätswachstum
In unserer Prognose wird das jährliche Wachstum der Arbeitsproduktivität in der Gesamtwirtschaft bis 2025 etwa 1,4 Prozent betragen. Die schwache Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktivität der letzten Jahre dürfte sich also fortsetzen. Zum Vergleich: Anfang der 1990er Jahre betrug das Wachstum noch über 3,5 Prozent.
Doch es gibt durchaus erhebliche Unterschiede zwischen den Sektoren. Die Spitze der Verteilung bilden Chemie und Pharmazie. Dort wird die Arbeitsproduktivität etwa doppelt so stark zulegen wie der Durchschnitt. Diese und andere kapitalintensive Branchen profitieren eher vom technischen Fortschritt als arbeitsintensive Branchen. Auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung schätzt in seinem jüngsten Gutachten, dass etwa 65 Prozent des Wachstums der Arbeitsproduktivität in Deutschland langfristig auf das Wachstum der Totalen Faktorproduktivität (TFP) zurückgeführt werden können. Hierfür spielen Innovationen und technischer Fortschritt die entscheidende Rolle.
In den arbeitsintensiven Branchen, dem Gesundheitswesen oder dem Gastgewerbe, ist das Potenzial für produktivitätssteigernden technischen Fortschritt geringer. Besonders im Gesundheitswesen und anderen Bereichen der Daseinsvorsorge sollte Produktivitätswachstum auch nicht alleiniges Ziel sein. Die Qualität der Versorgung sollte sicher einen höheren Stellenwert einnehmen. Dennoch bildet auch hier das Produktivitätswachstum eine Basis des Lohnwachstums und sollte dementsprechend nicht vernachlässigt werden. Darüber hinaus kann es sogar dabei helfen, die Qualität der Versorgung zu erhöhen, wenn beispielsweise Pflegerinnen und Pfleger von routinemäßigen Dokumentationspflichten durch digitale Lösungen entlastet werden und so mehr Zeit für ihre eigentliche Aufgabe finden.
Unteren Einkommensgruppen drohen reale Verluste
Diese Unterschiede zwischen den Branchen übertragen wir mithilfe der Informationen aus dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) auf die Haushaltsebene. Das SOEP liefert Informationen über die Einkommenssituation und Branchenzugehörigkeit der Beschäftigten. Über die Schnittstelle der Branchenzugehörigkeit verknüpfen wir die makroökonomische Prognose der Produktivitätsentwicklung mit der individuellen Einkommensentwicklung auf Haushaltsebene.
Dabei zeigt sich: Bereits bestehende Einkommensunterschiede werden in Zukunft weiter auseinanderdriften. Auf der Gewinnerseite stehen die bereits heute Besserverdienenden. Die verfügbaren Einkommen der oberen Einkommensgruppen werden real am stärksten zulegen. Geringverdienende hingegen werden immer weiter abgehängt. Ihnen drohen bis 2025 sogar reale Einkommensverluste von minus zwei Prozent. Die geringe Inflation und die steigende Abgabenlast werden die geringeren Lohnzuwächse der unteren Einkommensgruppe auffressen, so unsere Prognose.
Woran liegt das? Viele Beschäftigte in den unteren Einkommensgruppen arbeiten in Branchen mit einer unterdurchschnittlichen Produktivitätsdynamik. Allein im ersten Quintil arbeiten etwa 13 Prozent der Beschäftigten im Gesundheitssektor, im fünften Quintil hingegen nur etwa acht Prozent. Hier arbeiten deutlich mehr Erwerbstätige in den produktivitätsstarken Sektoren, beispielsweise jeweils etwa sechs Prozent im Maschinenbau und in der Finanzwirtschaft.
Frauen und Alleinerziehende besonders von schwacher Einkommensdynamik betroffen
Von der schwachen Einkommensdynamik sind besonders Frauen und Alleinerziehende betroffen. Sie sind häufig in unterdurchschnittlich produktiven Wirtschaftszweigen beschäftigt. Zudem arbeiten sie deutlich häufiger in Teilzeit. Während Männer mit minderjährigen Kindern zu fast 94 Prozent in Vollzeit arbeiten, sind es nach Angaben des Statistischen Bundesamts bei den Frauen nur knapp 34 Prozent. Das führt unserer Modellrechnung zufolge dazu, dass sich diese Einkommenslücke zwischen Männern und Frauen real noch bis 2025 um weitere 600 Euro vergrößern wird.
Dieser Trend dürfte sich durch die Corona-Pandemie weiter verschärfen. In den von den politischen Einschränkungen besonders betroffenen Branchen – Hotellerie, Gastgewerbe, Dienstleistungen – arbeiten überdurchschnittlich viele Geringverdienende, Frauen und Alleinerziehende. Nach der unmittelbaren Krisenbewältigung gilt es von mehreren Seiten gegenzusteuern. Die Förderung des Produktivitätswachstums ist ein wichtiger Hebel. Ein zweiter ist der Ausbau der Erwerbsbeteiligung, besonders vor dem Hintergrund des demografischen Wandels. Der Ausbau von guten Kitas und Ganztagsschulen und Zugang zu Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen können dabei helfen, die Erwerbsbeteiligung von Frauen und Alleinerziehenden zu erhöhen und somit die Einkommensunterschiede etwas zu verringern.
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