Warum die Frau an der Spitze den Blick verstellt
Was in der Öffentlichkeit jedes Jahr aufs Neue als kleine Revolution daherkommt, ist in Wahrheit eine traurige Bilanz. Laut Albright Stiftung hat die Besetzung rein männlicher Vorstands- und Aufsichtsratsposten in börsennotierten Unternehmen (160) zwar abgenommen, aber immer noch 71 Unternehmen begnügen sich damit, nur eine einzige Frau im Vorstand zu haben (17,4 Prozent). Sie sind wohl der Meinung, damit genug guten Willen beim Thema mehr Frauen in Führung gezeigt zu haben. Aber, liebe Unternehmen, diese klägliche Errungenschaft ist kein Grund zu feiern.
Gender Diversity definiert sich oft über den Frauenanteil in Top-Positionen
Denn trotz des weiblichen Neuzugangs bleiben diese Gremien männerdominiert. Zwar gibt es löbliche Ausnahmen wie die DAX-Größen Siemens Healthineers, Beiersdorf Merck und auch Zalando. Ihr Ziel war es von Anfang an, Vorstände paritätisch zu besetzen. In Summe haben aber nach wie vor Thomas und Christian das Sagen und kleben an ihrem Chefsessel. Umso mehr verwundert es, mit welcher Selbstverständlichkeit die "Quotenfrauen" an der Unternehmensspitze inzwischen als echter Durchbruch in Sachen Gleichstellung zelebriert werden. Erst recht, wenn man sich vergegenwärtigt, wie viele dieser Positionen für die Frauen schon nach kürzester Zeit zum Schleudersitz werden, und sie ihren Dienst genauso schnell wieder quittieren, wie sie ihn angetreten sind.
Diese Wahrnehmung führt in der Konsequenz dazu, dass Gender Diversity sich ausschließlich über den Frauenanteil an der absoluten Unternehmensspitze definiert. Gerade an Stichtagen wie dem heutigen Weltfrauentag oder auch dem Diversity-Tag sieht man das deutlich. Und anstatt hier einmal kritisch die Auswirkungen für das Unternehmen abzuwägen, werden weder Kosten noch Mühen gescheut, die Braut für ihren großen Tag möglichst öffentlichkeitswirksam herauszuputzen. Hier eine Platzierung unter den Top-Führungsfrauen, da eine blankpolierte Botschaft für die treuen Follower und natürlich jede Menge bildmächtige Unterstützung. Den einsamen Top-Frauen an der Unternehmensspitze wird damit bereits der Heldinnen-Status attestiert, bevor sie überhaupt unternehmerische Erfolge vorweisen können. Das ursprüngliche Ziel, wirklich mehr Frauen für den beruflichen Aufstieg bis zur Top-Etage zu begeistern und aufzubauen, verkommt damit immer mehr zu einer Show der Eitelkeiten.
Der Blick für die wesentlicher Aspekte der Gleichstellung wird verstellt
Wenn das die Art und Weise ist, mit der ein wirksames Signal für die unternehmensweite Gleichstellung gesetzt werden soll, haben wir ein ernstes Problem. Nicht nur, dass mit so einem Vermarktungsansatz das Thema Frauenkarrieren zu einseitig, zu billig verpackt, belabelt und verramscht wird. Auch der Blick für die wesentlichen Aspekte echter ökonomisch und gesellschaftlich wertstiftender Gleichstellung wird verstellt. Denn am Ende zahlt diese punktuelle Aufmerksamkeit nur auf das Reputationskonto der Vorstandsfrau selbst ein.
Das Ganze hat noch eine unliebsame Kehrseite. Denn mittlerweile wenden sich männliche Führungskräfte allein beim Wort Diversity genervt ab. Und zwar nicht nur die Erfahrenen, die mit der Quote ihren Soll erfüllt sehen. Auch junge, männliche Führungstalente sind frustriert. Schließlich wird ihnen suggeriert, dass im Zweifel immer die Frau genommen wird, damit es dann "oben" mit der Quote stimmt. Gesamtgesellschaftlich würde die Konzentration der Gleichstellung auf die Spitzenpositionen also bedeuten, dass genau das Gegenteil dessen eintritt, was man beabsichtigt (Gender-Equality- Paradox). Der Gender-Graben zwischen oben und unten wird größer anstatt kleiner und das Vertrauen ins Leistungsprinzip nimmt rapide ab.
Wie wollen Frauen heute Karriere machen?
Dabei ist es gerade in Zeiten demographischer Veränderung und Fachkräftenot mehr als überfällig, den Blick auf das eigentliche Spielfeld – die Unternehmensmitte - zu richten. Denn genau hier werden die Weichen dafür gestellt, ob Frauen durchgängig dieselben Chancen auf Führungspositionen wie ihre männlichen Kollegen bekommen, oder ob sie aufgrund von Voreingenommenheit oder geringerer Flexibilität immer noch gravierende Benachteiligungen in Kauf nehmen müssen, die sie am Ende ihre Karriere kosten.
Dafür braucht das bisherige Narrativ einen anderen Fokus. Der sollte sich ehrlich, konkret und reflektiert damit auseinandersetzen, wie weibliche Talente mit ihren Karriereambitionen über alle Unternehmensebenen hinweg unterstützt werden können, jenseits der ewigen Erbsenzählerei an der Spitze. Unternehmenslenkern, HR-Fachleuten und Diversity-Beauftragten kommt damit die wichtige Aufgabe zu, herauszufinden, wo genau die Knackpunkte dafür liegen, dass entweder nur sehr wenige Frauen aus dem eigenen Unternehmen die Spitze erreichen oder die Quotenfrauen stets teuer eingekauft werden müssen. Personaler sollten sich fragen: Wie wollen Frauen heute Karriere machen? Und welche Freiheiten geben wir ihnen dabei, das so flexibel und individuell zu tun, ohne berufliche Nachteile in Kauf nehmen zu müssen?
Gender Pay Gap auch in HR
Diese Fragen sind strukturell wichtig, damit Frauen durchgängig - vor, während und nach der Elternzeit - dieselben beruflichen Chancen beibehalten wie ihre männlichen Kollegen. Dabei spielt auch das Gehalt eine wesentliche Rolle. Beispielsweise zeigt eine aktuelle Erhebung des Wirtschaftsmagazins The Economist, dass eine erwerbstätige Frau nach zehn Jahren Mutterschaft satte 61 Prozent weniger verdient als ihr gleichaltriger männliche Kollege, der seine berufliche Karriere nicht unterbrochen hat.
Auch ohne Kinder gibt es gravierende Gehaltsunterschiede zwischen Männern und Frauen, je nach Hierarchieebene und Verantwortungsbereich. Dazu fand der Personaldienstleister Hays heraus, dass es auf der Ebene der Bereichsleitung im Personalwesen einen Gehaltsunterschied von 20 Prozent gibt, bei der Teamleitung sind es sogar 23 Prozent. Wie sind diese Unterschiede zu rechtfertigen? Nein, weder das Geschlecht noch die Care-Arbeit oder Kinderbetreuung dürfen Führungskarrieren oder, schlimmer noch, die berufliche Zukunft kosten. Zahlen für diese Missstände gibt es mittlerweile zuhauf. Das zeigt: Wir haben kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem.
Familienplanung bringt den Karriereknick
Ein Grund ist die ausschließliche Konzentration auf die Besetzung von Top-Positionen. Eine Defensiv-Strategie, die selten aufgeht. Denn damit wird das Thema Frauenkarriere zum Spielball gesetzlicher Kontrollen. Gesamtgesellschaftlich betrachtet gehört zur Demokratie aber auch, dass alle Lebens- und Erwerbsmuster gleichermaßen respektiert werden. Hier kommen die Frauen ins Spiel, die auf flexible Arbeitsmodelle setzen, da sie durch Kinder oder Elternpflege zeitlich kürzertreten müssen. "Kinderbetreuung oder Pflegesituationen sind für Frauen nur bedingt planbar. Wie das mit dem Job vereinbar ist, darüber wird in vielen Unternehmen aber nicht gesprochen", sagt Kathrin Weichel, DEI-Consultant bei Hays. "Es ist höchste Zeit, dieses Thema zu enttabuisieren, um Frauen ihre berufliche Zukunft nicht zu verbauen."
Und da es sich bei Müttern meist um eine große Anzahl von Frauen handelt, schlummert hier ein enormes Potenzial für den weiblichen Führungsnachwuchs. Denn diese Frauen wurden bisher aufgrund reduzierter zeitlicher Verfügbarkeit für Beförderungen nicht oder kaum mehr berücksichtigt.
Die Abwärtsspirale ist meist bei den Frauen in der Mitte ihres Berufslebens zu beobachten, dann, wenn sie schwanger werden und an die Familienplanung denken. Steigen sie nach einigen Jahren mit reduzierter Wochenarbeitszeit wieder ins Unternehmen ein, ist ihr ursprünglicher Job meist ein anderer. "Wir hören häufig, dass Frauen aus der Elternzeit zurückkamen und ihre Stelle jetzt jemand anderes übernommen hat. Häufig werden ihnen dann Jobs angeboten, für die sie überqualifiziert sind und die keine Perspektiven bieten", so Dr. Nina Gillmann, Geschäftsführerin vom Tandem-Anbieter Twise. Für die Unternehmerin und Volkswirtin ist dieser Zustand ein No-Go, weshalb sie sich vehement dafür einsetzt, dass Vereinbarkeit und Vollzeitkarrieren zusammengedacht werden. "Wenn wir alle Potenziale im Unternehmen heben wollen, brauchen wir führungstaugliche Alternativen zur klassischen Vollzeit-Karriere", sagt Gillmann. Das geht ihrer Ansicht nach nur, wenn Vereinbarkeit und Teilzeitjobs fester Bestandteil des Führungsvokabulars werden, und nicht Synonym für das berufliche Abstellgleis bleiben.
Job-Sharing als personalstrategischer Hebel
Wie hartnäckig solche Geschlechter-Stereotype wirken, weiß Marcel Derakhchan, Senior Partner bei dla digital leaders advisory, aus der eigenen Recruitment-Praxis. "Dass fähige Frauen entweder gar nicht für die Top-Jobs in Frage kommen oder auf Positionen mit geringem Einfluss landen, hat den Hintergrund, dass sie primär durch ihre Familien- und Pflegeverantwortung definiert werden. Fokus auf individuelle Führungspotenziale? Fehlanzeige", sagt er.
Ein kluger und wirksamer personalstrategischer Hebel, um den Gleichstellungszielen mit Systematik zu begegnen, ist daher das Job-Sharing. Führung ist Teilzeit bislang ein Randphänomen. 2023 arbeitete laut Bundesagentur für Arbeit deutschlandweit nur etwa jede achte Person (12,2 Prozent) unter den insgesamt knapp zwei Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Führungspositionen in Teilzeit. Wie eine aktuelle Untersuchung des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) zeigt, nehmen das Modell insbesondere Frauen in Anspruch. Demnach arbeiten 27,7 Prozent der weiblichen Führungskräfte in Teilzeit und nur 4,9 Prozent der männlichen.
"Führung in Teilzeit ist insbesondere in den Bereichen verbreitet, in denen überwiegend Frauen arbeiten, während in Männer-dominierten Berufsbereichen Führung in Teilzeit eher die Ausnahme ist", sagt Studienautorin Lydia Malin vom IW. Malin weist auf die Vorteile von Teilzeit-Führungsmodellen für Unternehmen hin. "Um dem Führungskräftemangel entgegenzuwirken, können Unternehmen den Kreis potenzieller Führungskräfte erweitern, indem sie durch Teilzeitmodelle ein größtmögliches Maß an Flexibilität ermöglichten", meint sie. Sie empfiehlt Unternehmen, bei der Ausschreibung einer Führungsposition explizit zu erwähnen, dass diese auch in Teilzeit ausgeübt werden kann. Maßgeschneiderte Angebote wie Kooperationen mit Kindertagesstätten oder Betriebskindergärten könnten helfen, um Bewerber - und insbesondere Bewerberinnenn - zu gewinnen.
"Blindspot Mutter": Blick für die Realitäten im Unternehmen schärfen
Klar ist jedoch: Damit Job-Sharing funktionieren kann, müssen Unternehmen ihre Hausaufgaben machen und sich intensiv mit den konkreten Hintergründen zum weiblichen Karriereknick auseinandersetzen. Ab welcher Karrierestufe stehen keine oder nicht genügend interne Kandidatinnen mehr zur Verfügung? Wie wird flexible Arbeit im Führungskontext bisher wahrgenommen? Inwiefern lohnt es sich, Teilzeit-Karrieremodelle anzubieten, um auf verantwortlichen Positionen eine durchgängige zeitliche Verfügbarkeit zu haben? Wird bei der Talente-Entwicklung Vereinbarkeit berücksichtigt? Wie halten wir wertvolles Wissen im Unternehmen, wenn die Babyboomer in Rente gehen?
Die Antworten auf diese Fragen zum "Blindspot Mutter" mögen zwar im Vergleich zu den glamourösen Geschichten der Vorstandsfrauen nicht so sexy klingen. Doch sie bilden die Realitäten im Unternehmen ab und helfen Personalmanagement und Führung ganz praktisch dabei, ihre Talente-Pipeline systematisch und flexibel aufzubauen- und damit die Thematik "Zu viel Frau an der Spitze" nicht mehr länger vom echten unternehmerischen Bedarf abzukoppeln.
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